Detlef Burhoff, Dr. Holger Niehaus
Rz. 198
Problematisch ist die Rüge der Verletzung des oben dargestellten und aus dem Anspruch auf ein faires Verfahren hergeleiteten Einsichtsrechts in die Messunterlagen im Rechtsbeschwerdeverfahren dann, wenn ein Zulassungsfall nach § 80 OWiG vorliegt, also dann, wenn kein Fahrverbot verhängt worden ist und die Geldbuße nicht mehr als 100 EUR (§ 80 Abs. 2 OWiG) oder nicht mehr als 250 EUR (§ 80 Abs. 1, § 79 Abs. 1 S. 1, Nr. 1 OWiG) beträgt. Denn nach dem Wortlaut des Gesetzes kann in den Fällen des § 80 Abs. 2 OWiG die Rechtsbeschwerde nur mit der Versagung des rechtlichen Gehörs begründet werden, aber nicht mit einer anderweitigen Verfahrensrüge. Und auch im Fall des § 80 Abs. 1 OWiG kann eine Verfahrensrüge nur unter den dort genannten weiteren einschränkenden Voraussetzungen durchdringen.
Rz. 199
Von nicht unerheblicher praktischer Bedeutung ist daher die Frage, ob die Nichtzugänglichmachung von Messunterlagen und -daten neben dem Recht auf ein faires Verfahren (s.o.) auch den Anspruch des Betroffenen auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt, denn dann wäre auch in den Zulassungsfällen des § 80 OWiG der Verstoß gegen das Einsichtsrecht rügefähig. Der VerfGH Saarland hat einen Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör in seinem Beschl. v. 27.4.2018 (DAR 2018, 573) ausdrücklich bejaht. Dessen Gewährleistungsgehalt sieht der VerfGH nicht nur in dem Recht des Betroffenen, dass einer gerichtlichen Entscheidung nur solche Tatsachen zugrunde gelegt werden, zu denen der Betroffene Stellung nehmen konnte. Vielmehr erstrecke sich der sachliche Schutzbereich auch auf einen Anspruch darauf, dass jeder Einzelne sich im Prozess mit tatsächlichen und rechtlichen Argumenten behaupten könne. Wer bei Gericht formell ankomme, solle auch "substantiell ankommen", also wirklich gehört werden.
Rz. 200
Ob einem so weiten Verständnis des Gewährleistungsgehalts des Anspruchs auf rechtliches Gehör gefolgt werden kann, dürfte fraglich sein (vgl. Cierniak/Niehaus, DAR 2018, 541, 543). Als durchaus erwägenswert erscheint es dagegen, eine Beschränkung des § 80 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 1 OWiG – entsprechend einer strengen Wortlautauslegung – auf die Versagung des rechtlichen Gehörs mit Blick auf die Bedeutung der Verwendung standardisierter Messverfahren im Verkehrsordnungswidrigkeitenverfahren abzulehnen und stattdessen einer Versagung des rechtlichen Gehörs die Verletzung des Anspruchs auf ein faires Verfahren gleichzustellen (Göhler/Seitz/Bauer, OWiG, § 80 Rn 16e; offen gelassen von OLG Karlsruhe, Beschl. v. 3.4.2019 – 2 Rb 8 Ss 194/19; OLG Oldenburg, Beschl. v. 23.7.2018 – 2 Ss OWi 197/18; ablehnend KG, Beschl. v. 2.4.2019 – 3 Ws (B) 97/19; v. 22.9.2020 – 3 Ws (B) 182/20 [Eine solche Gleichstellung sei dem Gesetzgeber vorbehalten]), zumal sich die Gewährleistungen jedenfalls überschneiden. Da die Vorschrift des § 80 OWiG allein prozessökonomischen Zwecken dient, stünden einem solchen Verständnis jedenfalls keine übergeordneten rechtlichen Gesichtspunkte im Wege (vgl. Cierniak/Niehaus, DAR 2018, 541, 543; dies., DAR 2020, 69, 74).
Hinweis
Der dt. Verkehrsgerichtstag 2020 hat in seinem Arbeitskreis IV die Empfehlung (Nr. 6) ausgesprochen, dass im Rahmen der Rechtsbeschwerde der Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren wie die Versagung des rechtlichen Gehörs (§ 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG) behandelt werden soll.