Detlef Burhoff, Dr. Holger Niehaus
Rz. 95
Neben der Geschwindigkeitsüberschreitung (dazu Rdn 18 ff.) und dem Rotlichtverstoß (vgl. Rdn 123 ff.) sind (Abstands-)Verstöße gegen § 4 StVO in der Praxis die mit am häufigsten begangenen Verkehrsordnungswidrigkeiten. Für den Betroffenen sind auch diese Verstöße deshalb von großer Bedeutung, weil bei erheblicher Abstandsunterschreitung nach der Tabelle 2 der BKatV ein Fahrverbot verhängt werden kann. Das gilt besonders für die Unterschreitung des erforderlichen Sicherheitsabstandes auf der BAB, wo häufig zu nah aufgefahren wird (allgemein zur Abstandsmessung Burhoff/Burhoff, OWi, Rn 68 ff.; Burhoff/H.-P. Grün u.a., OWi, Rn 80 ff.; Burhoff/Gieg/Krenberger, OWi, Rn 124 ff.).
I. Allgemeines
1. Bestimmung des erforderlichen Abstandes
Rz. 96
In der StVO ist nicht konkret geregelt, welcher Abstand zum Vordermann eingehalten werden muss. § 4 Abs. 1 StVO bestimmt nur, dass der Abstand von einem vorausfahrenden Fahrzeug i.d.R. so groß sein muss, dass auch dann hinter ihm gehalten werden kann, wenn plötzlich gebremst wird.
Hinweis
In § 4 Abs. 3 StVO ist allerdings konkret bestimmt, dass Lastkraftwagen über 3,5 t oder Omnibusse, wenn eine höhere Geschwindigkeit als 50 km/h auf Autobahnen gefahren wird, 50 m Mindestabstand einzuhalten haben. Auf eine konkrete Gefährdung wird dabei nicht abgestellt. Es handelt sich auch nicht nur um einen "Einscherabstand", sondern um einen konkret bestimmten Sicherheitsabstand. Dieser Abstand ist daher auch auf Strecken einzuhalten, auf denen das Überholen verboten oder wegen einer durchgehenden Fahrstreifenbegrenzung faktisch nicht möglich ist. Die Ausnahmevorschrift des § 4 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 StVO ist im Geltungsbereich des § 4 Abs. 3 StVO nicht anzuwenden (OLG Saarbrücken, VRS 110, 369).
Nach Auffassung des AG Lüdinghausen liegt ein Grenzfall des Verstoßes gegen § 4 Abs. 3 StVO vor, wenn der Betroffene bei einer sich an die Untergrenze des § 4 Abs. 3 StVO annähernden Geschwindigkeit den für Pkw geltenden "Halben-Tacho-Abstand" einhält (hier: Geschwindigkeit von 56 km/h; Abstand zum Vordermann: 37 m). In einem solchen Grenzfall kann bei einem Lkw-Fahrer eine Geldbuße unterhalb der Eintragungsgrenze für das FAER festgesetzt werden (AG Lüdinghausen, VA 2016, 174 = SVR 2016, 357).
Rz. 97
In der Praxis wird der erforderliche Sicherheitsabstand i.d.R. mit der Anwendung einer "Faustregel" bestimmt. Danach gilt als erforderlicher Sicherheitsabstand allgemein der "halbe Tachoabstand". Hierbei handelt es sich allerdings nur um einen unverbindlichen Maßstab (AG Homburg/Saar, DAR 1998, 31). Die obergerichtliche Rechtsprechung ermittelt den Sicherheitsabstand genauer. Nach der Rechtsprechung darf der Sicherheitsabstand zwischen zwei Kfz auf einer Schnellstraße den von dem nachfolgenden Kfz in 1,5 sec. zurückzulegenden Weg grds. nicht unterschreiten (vgl. u.a. OLG Düsseldorf, VRS 74, 451; OLG Hamm, VRS 55, 211; OLG Köln, VRS 67, 286; Beck/Berr/Schäpe, Rn 704, m.w.N. aus der Rspr.; Burhoff/Burhoff, OWi, Rn 73).
Hinweis
Nach Nr. 12.5 ff., Tabelle 2 des BKatV ist bei der Bemessung des Sicherheitsabstandes im Rahmen der Bußgeldbemessung aber vom halben Tachowert auszugehen (BayObLG, NJW 1988, 273 m.w.N.). Daran ist der Tatrichter gebunden.
Rz. 98
Davon zu unterscheiden ist noch der gefährdende Abstand. Er liegt vor, wenn der Sicherheitsabstand geringer ist als die in 0,8 sec. durchfahrene Strecke (vgl. u.a. OLG Köln, NZV 1992, 371 = VRS 83, 339).
2. Nicht nur vorübergehende Abstandsunterschreitung
Rz. 99
Für die Feststellung und die Bejahung eines bußgeldbewehrten Verstoßes gegen § 4 StVO müssen noch weitere Voraussetzungen erfüllt sein.
Rz. 100
Erforderlich ist zunächst, dass der erforderliche Sicherheitsabstand zu irgendeinem Zeitpunkt der Fahrt objektiv pflichtwidrig und subjektiv vorwerfbar unterschritten (OLG Hamm, zfs 2015, 711 = VA 2015, 69; OLG Koblenz VRR 2007, 232 [Ls.]; OLG Rostock, VRR 2014, 473 = VA 2014, 209 = NZV 2015, 405 [Ls.]). Die Abstandsunterschreitung ist nicht nur auf "nicht nur ganz vorübergehende" Unterschreitungen beschränkt (OLG Hamm, a.a.O.; s. wohl auch OLG Hamm, VA 2012, 209 = VRR 2013, 35 = NZV 2013, 203; VA 2013, 194 = VRR 2013, 432 = DAR 2013, 656).
Rz. 101
Auf das Vorliegen einer nicht nur ganz vorübergehenden Abstandsunterschreitung kommt es dagegen dann an, wenn Verkehrssituationen in Frage stehen, wie etwa das plötzliche Abbremsen des Vorausfahrenden oder der abstandsverkürzende Spurwechsel eines dritten Fahrzeugs, die kurzzeitig zu einem sehr geringen Abstand führen, ohne dass dem Nachfahrenden allein deshalb eine schuldhafte Pflichtverletzung angelastet werden kann (OLG Hamm, VA 2012, 209 = VRR 2013, 35 = NZV 2013, 203; DAR 2013, 656 = VA 2013, 194 = VRR 2013, 432; zfs 2015, 711 = VA 2015, 69; dazu auch schon OLG Hamm, NZV 1994, 70 = VRS 86, 362; OLG Koblenz, zfs 2007, 589]). Bei höheren Geschwindigkeiten ist insoweit eine Strecke von 250 bis 300 m erforderlich (OLG Celle, VRS 55, 448; OLG Düsseldorf, NZV 1993, 242; DAR 2002, 464 = VRS 103, 305 = NZV 2002, 519; OLG Hamm, a.a.O.; OLG Karlsruhe, zfs 2016, 531; OLG Köln, DAR 1983, 364; OLG Zweibrücken, VRS 85, 217; AG Homburg...