[Autor] Niehaus

1. Allgemeines

 

Rz. 168

Ebenso wie der Beschuldigte im Strafverfahren kann sich der Betroffene im OWi-Verfahren nur wirksam verteidigen, wenn er die ihm zur Last gelegten Umstände kennt (Cierniak, zfs 2012, 664, 669; Cierniak/Niehaus, DAR 2014, 2; dies., DAR 2018, 541, 542). Dies setzt die Kenntnis des Inhalts der Bußgeldakte voraus. Nur eine möglichst frühzeitige Information über die Vorwürfe, wegen der gegen ihn das Bußgeldverfahren betrieben wird, versetzt den Betroffenen in die Lage, sich rechtzeitig auf die Verteidigung einzurichten und sich Verteidigungsmittel zu beschaffen. Deshalb ist das Akteneinsichtsrecht des § 147 StPO i.V.m. § 46 OWiG ein Kernstück der Verteidigung, das den Grundsätzen des Rechts auf rechtliches Gehör und des fairen Verfahrens entspringt (Lüderssen, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 147 Rn 1 m.w.N.; Cierniak, zfs 2012, 664 ff.; Burhoff/Niehaus, OWi, Rn 168 ff.; zur Akteneinsicht allgemein Burhoff/Burhoff, EV, Rn 225 ff.).

 

Rz. 169

Auch im Verkehrsordnungswidrigkeitenverfahren steht die Akteneinsicht am Beginn des Mandats. Nur so erlangt der Verteidiger sichere Informationen über den konkreten Vorwurf, der dem Betroffenen gemacht wird und über die Beweislage.

 

Hinweis

Für das OWi-Verfahren gilt ebenso wie für das Strafverfahren: Ohne Akteneinsicht darf keine Einlassung erfolgen!

2. Besonderheiten der Akteneinsicht im OWi-Verfahren

a) Zeitpunkt der Akteneinsicht

 

Rz. 170

Akteneinsicht muss/kann – auch im OWi-Verfahren – so früh und so oft und so lange wie nötig genommen werden.

 

Rz. 171

Wird der Verteidiger vom Mandanten ggf. erst kurz vor der Hauptverhandlung beauftragt, muss der Verteidiger sich auch in diesen Fällen nicht nur selbst ausreichend Zeit zur Vorbereitung nehmen, sondern auch darauf bestehen, dass ihm diese Zeit gelassen wird. Er darf nicht erklären, er sei genügend vorbereitet, wenn das nicht der Fall ist (BGH, NJW 1965, 2164). Der Verteidiger darf sich grds. auch nicht damit zufrieden geben, wenn ihm auf seinen – kurzfristig – vor der Hauptverhandlung gestellten ersten Akteneinsichtsantrag z.B. mitgeteilt wird, die Akten könnten am Terminstag vor dem Termin auf der Geschäftsstelle eingesehen werden. Dies ist mit dem umfassenden Akteneinsichtsrecht des Verteidigers nicht zu vereinbaren, insbesondere ersichtlich dann nicht, wenn der Verteidiger die Einsicht in die Messunterlagen verlangt hat (s.u.), um gegebenenfalls einen Privatgutachter mit der Überprüfung der Messung zu beauftragen (OLG Celle, Beschl. v. 22.2.2022 – 2 Ss (OWi) 264/21, VRR 5/2022, S. 28 ff. (Burhoff); ebenso OLG Stuttgart, Beschl. v. 3.8.2021 – 4 Rb 12 Ss 1094/20, zfs 2021 647; Cierniak/Niehaus, DAR 2014, 2, 6; vgl. aber OLG Hamm, Beschl. v. 3.9.2012 – II-3 RBs 235/12, Tz. 13). Der Verteidiger muss auch in diesem Fall auf "normaler" Akteneinsicht bestehen und diese beantragen. Wird ihm nicht früh genug vor der Hauptverhandlung ausreichende Akteneinsicht gewährt, bleibt ihm keine andere Wahl, als (spätestens) zu Beginn der Hauptverhandlung deren Aussetzung wegen fehlender Akteneinsicht zu beantragen. Wird der Antrag abgelehnt, muss das gem. § 238 Abs. 2 StPO beanstandet werden, um so den für die Rechtsbeschwerde erforderlichen Gerichtsbeschluss (OLG Saarbrücken, VRR 2016, Nr. 4 S. 18 = StRR 2016, Nr. 4 S. 22 = VA 2016, 103; vgl. die Formulierung in § 338 Nr. 8 StPO) zu erlangen (Cierniak/Niehaus, DAR 2018, 541, 543, vgl. auch Rdn 197).

b) Verfahren

 

Rz. 172

 

Hinweis

Für die Akteneinsicht im Bußgeldverfahren gelten grds. die allgemeinen Regeln der Akteneinsicht im Strafverfahren (s. Burhoff/Burhoff, EV, Rn 225 ff.; Burhoff/Niehaus, OWi, Rn 252 ff.).

 

Rz. 173

Zuständig für die Akteneinsicht im vorbereitenden Verfahren ist die Verwaltungsbehörde, die das Verfahren durchführt. Ist das Verfahren bereits beim AG anhängig, ist dieses für die Gewährung der Akteneinsicht zuständig.

 

Rz. 174

Berechtigt zur Akteneinsicht ist zunächst der Verteidiger des Betroffenen.

 

Hinweis

Voraussetzung für die Gewährung von Akteneinsicht ist nicht, dass sich eine schriftliche Vollmacht bei der Akte befindet. Es genügt die Versicherung des Verteidigers, er sei bevollmächtigt (BGHSt 36, 259, 260; BGH, StraFo 2010, 339; KG, Beschl. v. 10.4.2007 – 2 Ss 58/07; Beschl. v. 17.10.2011 – 2 Ss 68/11; OLG Brandenburg, VRS 117, 305; OLG Jena, VRS 108, 276; OLG Koblenz, VRS 94, 219; OLG Köln, StRR 2011, 479; Burhoff/Burhoff, EV, Rn 295 m.w.N.; Burhoff/Niehaus, OWi, Rn 183; s. wohl auch BVerfG NJW 2012, 141 m. Anm. Burhoff StRR 2011, 426). Hat das Gericht Zweifel, muss/kann es diese allerdings aufklären und kann dann ggf. die Vorlage einer Vollmachtsurkunde verlangen (vgl. OLG Hamm, AnwBl. 1981, 31).

 

Rz. 175

Nach § 49 Abs. 1 OWiG gewährt im Verfahren vor der Verwaltungsbehörde diese dem Betroffenen aber auch selbst – unter Aufsicht – Akteneinsicht (auch § 147 Abs. 4 StPO, zum Akteneinsichtsberechtigten Burhoff/Niehaus, OWi, Rn 180 ff.). Die Akteneinsicht durch den Betroffenen selbst steht nicht im Ermessen der Verwaltungsbehörde, sondern vermittelt dem Betroffenen einen Anspruch im Rahmen der in § 49 Abs. 1 OWiG genannten Versagungsgründe (KK-OWiG/La...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge