Rz. 100
Qualifikationsprobleme ergeben sich, wenn überlebende Angehörige Unterhaltsansprüche gegen den Nachlass geltend machen. Unterhaltspflichten sind gem. Art. 1 Abs. 2 lit. e EuErbVO vom Anwendungsbereich der EuErbVO ausdrücklich ausgenommen. Eine Abgrenzung anhand des "Zwecks" des Unterhaltsanspruchs ist kaum möglich, denn nicht nur das Unterhaltsrecht, auch das Erb-, insbesondere das Pflichtteilsrecht erfüllen Versorgungsfunktionen, so dass sie sich im Grenzbereich überschneiden und gegenseitig beeinflussen. So wird z.B. im deutschen Recht der überlebende Ehegatte nach Rechtshängigkeit des Scheidungsantrags für den Wegfall des Erbteils gem. § 1933 BGB durch einen Unterhaltsanspruch gegen den Nachlass entschädigt, der wiederum auf den hypothetischen Pflichtteil eines Ehegatten begrenzt ist, § 1586b Abs. 1 BGB. Der im französischen Recht neben Abkömmlingen pflichtteilslose Ehegatte erhält im Fall der Bedürftigkeit einen Unterhaltsanspruch gegen den Nachlass (Art. 767 c.c.). Die Entstehung von Ansprüchen auf family provision in England, Neuseeland und Kanada für Kinder, Verwandte und andere Personen ist im Wesentlichen von ihrer Bedürftigkeit abhängig; für die Bemessung der Beträge wird auf den Unterhaltsbedarf abgestellt und vielfach erfolgt die Zuweisung in Form von Rentenzahlungen.
Rz. 101
Die am 18.6.2011 in Kraft getretene Europäische Verordnung über die Zuständigkeit, das anwendbare Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Zusammenarbeit in Unterhaltssachen enthält – entgegen ihrem vielversprechenden Titel – keine kollisionsrechtlichen Regeln zur Bestimmung des Unterhaltsstatuts. Art. 15 EuUntVO verweist aber zur Bestimmung des auf die Unterhaltspflichten anzuwendenden Rechts auf das Haager Protokoll vom 23.11.2007 über das auf Unterhaltspflichten anzuwendende Recht (HUP). Art. 18 EGBGB wurde mit Wirkung vom 18.6.2011 an aufgehoben. Der Unterhaltsanspruch unterliegt gem. Art. 3 Abs. 1 des Haager Unterhaltsprotokolls dem am gewöhnlichen Aufenthalt des Unterhaltsberechtigten geltenden Recht. Lebten Erblasser und Unterhaltsberechtigter in verschiedenen Ländern oder hat der Erblasser durch erbrechtliche Rechtswahl gem. Art. 22 EuErbVO die Erbfolge einem Recht unterstellt, das nicht für die unterhaltsrechtlichen Beziehungen gilt, so divergieren Erb- und Unterhaltsstatut. Die Qualifikation des aufgrund des Todesfalls entstehenden Anspruchs als erb- oder als güterrechtlich kann sich dann auf das anwendbare Recht und damit auf Existenz und Höhe auswirken.
Rz. 102
Einigung scheint man zumindest in folgenden Punkten gefunden zu haben:
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Das Unterhaltsstatut entscheidet über Voraussetzungen und Höhe eines Unterhaltsanspruchs, der bereits unter Lebenden unterstanden ist, auch wenn der Unterhaltsschuldner zwischenzeitlich verstorben ist und sich der Anspruch daher jetzt als Erblasserschuld gegen den Nachlass richtet. |
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Das Erbstatut entscheidet, wer im Rahmen der Universalsukzession für die Unterhaltsverbindlichkeiten des Erblassers als Erbe etc. aufkommt und wie er sich hierdurch durch Ausschlagung, Nachlassverwaltung etc. befreien kann. |
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Das Unterhaltsstatut bestimmt, ob mit dem Tod des Unterhaltsschuldners die Unterhaltsberechtigung insgesamt erlischt oder ob die persönliche Unterhaltsverpflichtung mit dem Tod des Unterhaltsschuldners auf andere Angehörige – also seine Erben – übergeht. |
Rz. 103
Umstritten war dagegen, ob Ansprüche auf laufende Unterhaltszahlungen, die mit oder erst nach dem Erbfall entstehen, erb- oder unterhaltsrechtlich zu qualifizieren sind. Nach einer Ansicht sind auf Zahlung von laufenden Renten zur Deckung des Lebensbedarfs gerichtete Ansprüche stets unterhaltsrechtlich zu qualifizieren und zwar selbst dann, wenn sie ein fehlendes Erbrecht ausgleichen sollen. Fallen Erbstatut und Unterhaltsstatut auseinander, kann es deswegen, weil der Unterhaltsanspruch hier an die Stelle eines fehlenden Erb- oder Pflichtteilsrechts tritt (bzw. umgekehrt), zu "Normenhäufungen" kommen, wenn der Begünstigte sowohl mit einem Erb- bzw. Pflichtteilsrecht als auch mit einem Unterhaltsanspruch entschädigt wird. Ebenso sind "Normenmangel-Situationen" möglich, wenn er weder nach Erb- noch aus dem Unterhaltsstatut etwas erhält, obwohl jede der beiden Rechtsordnungen ihn berücksichtigen würde – nur die für das Erbrecht geltende Rechtsordnung mit einem Unterhaltsanspruch und die für den Unterhaltsanspruch geltende Rechtsordnung mit einem erbrechtlichen Pflichtteil. Diese Diskrepanzen sollen im Wege der Angleichung bewältigt werden.
Rz. 104
Zwingend erscheint dies nicht. Da es ein typisches Merkmal von Unterhaltsbeziehungen ist, dass sie unter Lebenden bestehen, beruht die vorgenannte Ansicht auf einer ausdehnenden Auslegung des Unterhaltsbegriffs. Praktische Probleme sind die Folge: Die Angleichung ist aufwendig, da sie einen umfassenden Vergleich der beteiligten Rechtsordnungen erfordert. Wegen der unterschiedlichen Methoden zur Angleichung sind die Ergebnisse nicht vorher...