Florian Kienle, Pius Dolzer
Rz. 8
Zwar geben die Art. 49, 54 AEUV, die keinen spezifisch kollisionsrechtlichen Gehalt haben, die Geltung der Gründungstheorie nicht positiv vor; sie bedingen aber die Nichtanwendbarkeit solcher Rechtsnormen, die sich als Einschränkung der Niederlassungsfreiheit erweisen. Nach dem sehr weit gefassten Begriffsverständnis des EuGH erweisen sich solche Maßnahmen als eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit, die deren Ausübung unterbinden, behindern oder weniger attraktiv machen. Damit hat der EuGH über das bereits im Wortlaut von Art. 49 AEUV enthaltene Diskriminierungsverbot ein umfassendes Beschränkungsverbot aufgestellt. Allerdings greift die Niederlassungsfreiheit in Abgrenzung zur Kapitalverkehrsfreiheit nur im Falle von Beteiligungen, die einen sicheren Einfluss auf die Entscheidungen der Gesellschaft vermitteln, was ab einer Beteiligungsquote von 10 % jedenfalls zu prüfen ist. Nur hingewiesen sei an dieser Stelle auf die Anwendungserstreckung von Art. 19 Abs. 3 GG auf Gesellschaften aus dem EU-Ausland, so dass diese im Inland als grundrechtsfähig anzusehen sind.
Rz. 9
Eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit kann sich im Falle von Gesellschaften grundsätzlich aus der Anwendung eines vom Gründungsrecht unterschiedlichen Gesellschaftsrechts sowie aus sonstigen Bestimmungen des nicht mit dem Gründungsrecht identischen inländischen Rechts ergeben. Da bei der Gründung einer ausländischen Kapitalgesellschaft die deutschen Vorschriften, insbesondere diejenigen über die Kapitalaufbringung, nicht beachtet werden, kann diese ausländische Kapitalgesellschaft der Sitztheorie folgend nicht als eben solche für rechts- und parteifähig anerkannt werden. Sind die Gründungsregelungen des Sitzstaates nicht eingehalten, versperrt die Sitztheorie im Wesentlichen das kapitalgesellschaftsrechtliche Privileg der Haftungsbeschränkung und stellt die ausländische Gesellschaft mit inländischem Verwaltungssitz vor das Dilemma, sich entweder nach deutschem Recht neu zu konstituieren oder sich einem abweichenden Haftungsregime ausgesetzt zu sehen. Die Anwendung des Sitzrechts kann deshalb rechtliche Hürden für eine Niederlassung im Inland aufstellen oder aufgrund seiner Ausgestaltung eine abschreckende Wirkung zeitigen. Mithin entpuppt sich die aus der Sitztheorie folgende Anwendbarkeit des inländischen Gesellschafts-, insbesondere des Gründungsrechts, als Mobilitätshindernis für Auslandsgesellschaften. Dies führte zu diversen Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof im Wege der Vorlage nach Art. 267 AEUV.
Rz. 10
Um den niederlassungsrechtlichen Bedenken Rechnung zu tragen, war der II. Zivilsenat des BGH zwischenzeitlich auf eine modifizierte Version der Sitztheorie ausgewichen, wonach eine ausländische Kapitalgesellschaft nicht als rechtlich inexistent, sondern mangels Erfüllung der deutschen Gründungsvorschriften für Kapitalgesellschaften als Personengesellschaft anerkannt wurde (sog. Wechselbalglehre, siehe Rdn 24). Drastische Folge einer derartigen Umqualifizierung war der Verlust des mit der Eigenschaft als Kapitalgesellschaft einhergehenden Haftungsprivilegs der Gesellschafter – ebenfalls eine Konsequenz mit abschreckender Wirkung im Hinblick auf eine Sitzverlegung. Der BGH hat diese Rechtsprechung aus diesem Grunde wieder aufgegeben.