Florian Kienle, Pius Dolzer
Rz. 196
Ausgangspunkt zum Verständnis der Existenzvernichtungshaftung ist der Umstand, dass das als Korrelat zur Haftungsbeschränkung zu verstehende Schutzsystem der §§ 30, 31 GmbHG lückenhaft bleibt; so bspw. im Hinblick auf stille Reserven. Aus Gläubigerschutzgründen bedarf es daher anderer Rechtsgrundlagen für einen etwaigen Zugriff auf das Vermögen abziehende Gesellschafter. Zunächst sollte dies mit einer konzernrechtlichen Haftung im sog. "qualifiziert faktischen Konzern" gewährleistet werden. Danach war ein herrschendes Unternehmen, das bei der Ausübung seiner Leitungsmacht auf die Interessen einer abhängigen GmbH an der Erhaltung ihrer Fähigkeit, ihre Verbindlichkeiten zu bedienen, keine angemessene Rücksicht genommen und ihr die hierzu erforderlichen Mittel entzogen hat, in entsprechender Anwendung der konzernrechtlichen Regelung des § 303 AktG persönlich für die Verbindlichkeiten der GmbH haftbar, vorausgesetzt, die zugefügten Nachteile ließen sich nicht isoliert ausgleichen. Die für die Rechtsprechung zum "qualifiziert faktischen Konzern" maßgebenden Urteile des BGH blieben unter den Titeln "Autokran", "Tiefbau", "Video" und "TBB" in Erinnerung.
Rz. 197
Mit Urteil in Sachen Bremer Vulkan löste sich der BGH jedoch von der bis dato konzernrechtlich begründeten Haftung und konzipierte die Existenzvernichtungshaftung zunächst als Durchgriffshaftung. Diese sollte auf den Schutz des Stammkapitals i.S.d. §§ 30 ff. GmbHG beschränkt sein und nur dann als grundsätzlich unbeschränkte Außenhaftung subsidiär greifen, wenn ein entsprechender Schutz durch die §§ 30, 31 GmbHG nicht gewährleistet werden konnte. Mit der Trihotel-Entscheidung lies der BGH dann aber das so gefasste Haftungskonzept wieder fallen und ordnete den existenzvernichtenden Eingriff dogmatisch allein als besondere Fallgruppe im Rahmen der allgemeinen deliktischen Anspruchsnorm des § 826 BGB ein, und zwar – im Gleichlauf mit den gesellschaftsrechtlichen Schutznormen der §§ 30, 31 GmbHG – als Innenhaftung des Gesellschafters gegenüber der Gesellschaft selbst. Entgegen seiner bisherigen Annahmen sah der BGH kein Bedürfnis mehr, auf missbräuchliche Eingriffe in das Gesellschaftsvermögen mit einer Durchgriffshaftung, i.e. mit dem Verlust des Haftungsprivilegs zu reagieren. Denn eine so konzipierte Durchgriffs-Außenhaftung ähnlich zur Haftung nach § 128 HGB liefe Gefahr, in einer Vielzahl von Fällen weit über das Ziel hinauszuschießen und der Gesellschaftsform der GmbH den Boden zu entziehen. In dem missbräuchlichen Eingriff in das Gesellschaftsvermögen sei ferner weder begrifflich noch funktionell ein Missbrauch der Rechtsform als solcher zu sehen.
Rz. 198
Im Ergebnis stützt sich die Existenzvernichtungshaftung heute auf die Rechtsgrundlage des § 826 BGB. Haftungsgrund ist die planmäßige Entziehung von der Zweckbindung zur vorrangigen Befriedigung der Gesellschaftsgläubiger unterliegendem Vermögen der Gesellschaft mit der Folge der Insolvenz. Dabei kann die für § 826 BGB erforderliche Sittenwidrigkeit schon anzunehmen sein, wenn die faktische dauerhafte Beeinträchtigung der Erfüllung der Verbindlichkeiten die voraussehbare Folge des Eingriffs ist und der Gesellschafter diese Rechtsfolge in Erkenntnis ihres möglichen Eintritts billigend in Kauf genommen hat. Der wesentliche Unterschied der an die Stelle des qualifiziert faktischen Konzerns getretenen Existenzvernichtungshaftung besteht diesem gegenüber im Verzicht auf das Tatbestandsmerkmal einer Konzernlage. Im Vergleich zur Durchgriffshaftung handelt es sich bei heutiger Konzeption jedoch nicht um eine subsidiäre Außen-, sondern um eine nicht-subsidiäre Innenhaftung in echter Anspruchsgrundlagenkonkurrenz zu den §§ 30, 31 GmbHG; zudem um eine verschuldensabhängige Haftung und nicht um eine erfolgsbezogene, verschuldensunabhängige Verursachungshaftung. Sie dient einem Eingriffsausgleich und schützt als Anspruch der Gesellschaft gegen den Gesellschafter die Gläubiger derselben "mittelbar". Die Geltendmachung erfolgt im Falle der Insolvenz durch den Insolvenzverwalter, § 80 InsO. Außerhalb eines Insolvenzverfahrens bzw. bei Ablehnung der Eröffnung infolge Masselosigkeit bleiben die Gesellschaftsgläubiger für eine Inanspruchnahme der Gesellschafter aufgrund des Trennungsprinzips auf den Umweg der Pfändung und Überweisung i.S.d. §§ 829, 835 ZPO im Anschluss an einen Titel gegen die Gesellschaft selbst verwiesen.