Florian Kienle, Pius Dolzer
Rz. 44
Im Hinblick auf verschiedene, prima facie gesellschaftsrechtliche Rechtsinstitute (siehe im Einzelnen Rdn 162 ff.), die eine inhaltliche Nähe zum Insolvenzrecht aufweisen, wird eine insolvenzrechtliche Qualifikation vorgeschlagen, um die betroffenen Rechtsfragen dadurch dem Insolvenzstatut anstelle des Gründungs- bzw. Herkunftsrechts zu überantworten. Betroffen sind nicht nur solche Rechtsinstitute, die die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens verlangen, sondern auch solche im Vorfeld einer Insolvenz. Die insolvenzrechtliche Qualifikation eines Haftungsinstituts hätte gem. Art. 3, 7 EuInsVO, §§ 3, 335 InsO kollisionsrechtlich zur Folge, dass das Recht desjenigen Staates ausschlaggebend wäre, in dem der Schuldner seine wesentlichen Aktivitäten entfaltet und am Rechtsverkehr teilnimmt.
Rz. 45
Diese Überlegungen, das deutsche Gläubigerschutzsystem auf dem Wege insolvenzrechtlicher Qualifikation zur Geltung zu verhelfen, wurzeln in der für das deutsche Recht charakteristischen engen Verzahnung von gesellschaftsrechtlichen Kapital- und Gläubigerschutzmechanismen mit dem insolvenzrechtlichen Instrumentarium, die ineinander greifend ein umfassendes Schutzsystem bilden. Verschiedene Rechtsinstitute liegen dabei gleichsam in der Schnittmenge beider Rechtsgebiete, indem sie – systematisch in gesellschaftsrechtlichem Gewande – ihrem materiellen Gehalt zu urteilen in hohem Maße insolvenzrechtlicher Natur sind und sich daher einer trennscharfen Zuordnung entziehen. Freilich hat der Gesetzgeber des MoMiG weite Teile des im Gesellschaftsrecht geregelten Gläubigerschutzes nunmehr in das Insolvenzrecht verschoben und auch die Rechtsprechung lässt Tendenzen einer Schutzverlagerung weg vom Gesellschaftsrecht hin zum niederlassungsneutralen, allgemeinen Verkehrsrecht erkennen.
Rz. 46
Das ineinander greifende Gläubigerschutzsystem aus Insolvenz- und Gesellschaftsrecht ist durch die Inspire Art-Entscheidung aus den Fugen geraten. In Anbetracht der mit dem Einsatz von ausländischen Kapitalgesellschaften einhergehenden Missbrauchsgefahren werden verstärkt vordergründig gesellschaftsrechtliche Instrumentarien auf ihren etwaigen insolvenzrechtlichen Gehalt hin untersucht. Prominentestes Beispiel hierfür bildeten bis zu ihrer Verpflanzung nach § 15a InsO die in § 64 GmbHG enthaltenen Regelungen über die Insolvenzverschleppung. Das funktionale Äquivalent auf britischer Seite, die Haftung wegen wrongful trading, die in sec. 214 des englischen Insolvency Act 1986 verortet ist, hat auch hierzulande die Diskussion befruchtet, ob die Insolvenzverschleppung unabhängig von ihrem systematischen Standort nicht per Qualifikation dem Insolvenzstatut zuzuweisen ist, um sie dadurch als Handhabe auch gegen Scheinauslandsgesellschaften zur Verfügung zu haben. Ähnliche Erwägungen liegen der dogmatischen Verankerung spezifisch gesellschaftsrechtlicher Haftungsfiguren – namentlich der Existenzvernichtungshaftung – im allgemeinen Zivilrecht (§ 826 BGB) zugrunde.
Rz. 47
Derartige Überlegungen waren zu Zeiten des noch unter dem Regime der Sitztheorie regelmäßig bestehenden Gleichlaufs der insolvenzrechtlichen mit der gesellschaftsrechtlichen Anknüpfung, der dazu führte, dass das Haftungsregime regelmäßig in seiner Ganzheit und unabhängig von der Verortung im Insolvenz- oder im Gesellschaftsrecht zur Anwendung gelangte, nicht im selben Maße veranlasst. Eine gesellschaftsrechtliche Qualifikation eines Rechtssatzes konnte unter der Prämisse erfolgen, es würde damit das Recht des hauptsächlich betroffenen Sitzstaates zur Anwendung gelangen; aus diesem Grunde wird die Eignung der überkommenen Zuordnungen in Frage gestellt.
Rz. 48
Bei der Abgrenzung des Insolvenz- und des Gesellschaftsstatuts ist im Sinne einer funktionellen Qualifikation maßgeblich auf den Zweck des anzuknüpfenden Rechtsinstituts abzustellen. Eidenmüller schlägt vor, die Abgrenzung danach vorzunehmen, ob es um Regelungen geht, die über den Bestand und Umfang der gegen Gesellschafter oder Geschäftsführer gerichteten Ansprüche entscheiden, mithin um die Haftungsbegründung, oder um solche Vorschriften, die den Prozess der Haftungsverwirklichung unter Knappheitsbedingungen beherrschen. Erstere seien Bestandteile des Gesellschaftsstatuts, Letztere des Insolvenzstatuts. Ähnlich differenziert Kindler nach den Ordnungszielen bzw. dem Zweck der jeweiligen Schutznorm. Stehen hierbei die gemeinschaftliche Befriedigung der Gläubiger und die zwischen diesen zu gewährleistende Verteilungsgerechtigkeit sowie der Ausschluss lebensuntüchtiger Marktteilnehmer (Reinigungsfunktion) im Vordergrund, handelt es sich um Insolvenzrecht, während dem Gesellschaftsrecht die Vorschriften über die Innen- und Außenbeziehungen von privatrechtlichen Verbänden zugehören (Rechts-, Geschäfts- und Handlungsfähigkeit, Errichtung, innere Verfassung, Auflösung, Organbefugnisse, Gesellschafter- und Organhaftung). Die konkrete Zuordnung wird im Hinblick auf die einzelnen Haftungsinstitute eingehe...