Florian Kienle, Pius Dolzer
Rz. 118
Grenzüberschreitende Konzernzusammenbrüche bilden einen Hauptanwendungsfall des Internationalen Insolvenzrechts und befruchten, wie zahlreiche Beispielsfälle zeigen, stets die juristische Diskussion. Mit den Art. 56 ff. finden sich hierzu nunmehr auch Regelungen in der neugefassten EuInsVO (vgl. Rdn 123). Die EuInsVO 2000 hielt dagegen für Konzernsachverhalte noch keine eigenständige Regelung vor, so dass (wie im Ergebnis auch heute) im Rahmen der Insolvenz von Konzerngesellschaften die Eröffnungszuständigkeit anhand von Art. 3 Abs. 1 EuInsVO zu ermitteln war. Die Möglichkeit einer konzernweiten Verfahrenskoordination durch ein Hauptverfahren über das Vermögen der Mutter und Sekundärverfahren über die Vermögen der Töchter war jedenfalls nicht möglich, da sich Haupt- und Sekundärverfahren zwingend auf denselben Schuldner beziehen mussten.
Rz. 119
Paradigmatisch für den internationalen Konzern ist der zentral organisierte Konzern, d.h. der Konzern, der Produktion und werbende Tätigkeit über nationale Tochtergesellschaften entfaltet, während die strategischen Planungs-, Entscheidungs- und Lenkungsfunktionen, das mind of management, bei der Konzernmutter angesiedelt sind. In Reinform war diese Gestaltung im Falle der Rover-Insolvenz anzutreffen; den weltweiten Vertrieb organisierte die in England ansässige Konzernmutter über jeweils 100-prozentige Tochtergesellschaften in den einzelnen Zielstaaten. Der Birmingham High Court of Justice hat seine internationale Eröffnungszuständigkeit nicht nur in Bezug auf die Konzernmutter, sondern auch im Hinblick auf das Vermögen sämtlicher ausländischer Tochtergesellschaften angenommen, deren Personal-, Marketing- und Vertriebsangelegenheiten ebenfalls von England aus zentral gesteuert wurden. Dies ermöglichte die Bestellung eines einheitlichen Insolvenzverwalters und eine konzerneinheitliche Abwicklung nach dem englischen Verfahrensrecht, was nach Auffassung des High Court eine berechtigte Erwartung höherer Insolvenzquoten im Vergleich zu einer isolierten Abwicklung der einzelnen Tochtergesellschaften nach dem Insolvenzrecht ihres Sitzstaates begründete. Schon zuvor hatte der High Court of Justice in Leeds in seiner Entscheidung in re Daisytek-ISA Ltd. die Eröffnungszuständigkeit für solche Gesellschaften eines Konzernverbundes angenommen, deren Satzungs- und Verwaltungssitz sich nicht im Eröffnungsstaat befand, mit der Begründung, deren Interessenmittelpunkt liege dort, wo die wesentlichen Strategieentscheidungen gefällt und die Finanzierungs- und Lieferbeziehungen des Unternehmens organisiert würden (sog. head office functions); insgesamt wurde die Zuständigkeit über 14 ausländische Untergesellschaften am Sitz der britischen Holding-Gesellschaft konzentriert.
Rz. 120
Damit haben die britischen Gerichte ganz in der Tradition des common law, die Form nicht über den Inhalt zu stellen, eine unternehmens- bzw. konzernbezogene Eröffnungszuständigkeit anstelle einer rechtsträgerbezogenen Zuständigkeit, wie sie der EuInsVO mit ihrem Abstellen auf den Schuldner als Rechtssubjekt zugrunde liegt, kreiert. Dieses Begriffsverständnis des Interessenmittelpunktes gestattet im Gegensatz zu einer formalen, auf die isolierte (juristische) Person des Schuldners konzentrierten Betrachtungsweise eine einheitliche Beurteilung der wirtschaftlichen Gesamtzusammenhänge innerhalb der Unternehmensgruppe. Die Maßgeblichkeit des mind of management eröffnet damit nicht nur eine neue verfahrensrechtliche Dimension für internationale Konzerninsolvenzen durch eine gesellschaftsübergreifende Koordination des Insolvenzverfahrens einschließlich einer einheitlichen Umsetzung insolvenzrechtlicher Strategieentscheidungen, sondern liegt aufgrund der Aussicht auf Maximierung der Haftungsmasse auch im wirtschaftlichen Interesse der Gesamtgläubigerschaft. Dieser Ansatz der Vorrangigkeit der Gesamtinteressen vor den Interessen der Gläubiger der einzelnen Tochtergesellschaften ist teilweise auch bei kontinentaleuropäischen Gerichten auf fruchtbaren Boden gefallen. Neben dem AG München im Fall Hettlage und dem AG Siegen im Fall Zenith haben u.a. das Tribunale di Parma und der Municipality Court von Fejer/Székesfehérvár (Ungarn) im Fall Parmalat und das Tribunale di Roma im Fall Cirio auf den Sitz der Konzernobergesellschaft, bei der die wesentlichen Unternehmensfunktionen angesiedelt waren, abgestellt. Das AG München hat dabei gar eine Vermutungsregel aufgestellt, wonach der Interessenmittelpunkt einer Auslandstochter sich am inländischen Konzernsitz befinde.
Rz. 121
Mit der Verbesserung der Lage der Gesamtgläubigerschaft geht gleichwohl eine Zurückstellung der Interessen der jeweils inländischen Gläubiger der einzelnen Konzerngesellschaften einher, die sich mit einem fremden Insolvenzstatut und einer Verfahrensorganisation im Ausland sowie der Möglichkeit des Verlustes ihrer Sicherheiten konfrontiert sehen. Ihr internationalprivatrechtlic...