Florian Kienle, Pius Dolzer
Rz. 199
Im Hinblick auf die kollisionsrechtliche Qualifikation der Existenzvernichtungshaftung ist der Meinungsstand kontrovers. In Betracht kommen eine deliktsrechtliche, gesellschaftsrechtliche oder insolvenzrechtliche Qualifikation.
Für eine insolvenzrechtliche Einordnung spricht, dass die Haftung wegen existenzvernichtenden Eingriffs voraussetzt, dass durch den Eingriff ein Insolvenztatbestand geschaffen wurde. Aus diesem Grunde wird die Haftung auch als Insolvenzverursachungs- oder -vertiefungshaftung bezeichnet; im Insolvenzverfahren ist der Insolvenzverwalter aktivlegitimiert. Auch weist die Rechtsfigur eine starke Ähnlichkeit mit den Tatbeständen der Insolvenzanfechtung auf. Ihre Anwendung ließe sich daher jedenfalls im Sinne einer Annexregelung zum Insolvenzrecht rechtfertigen. Die Gemeinsamkeit mit dieser besteht darin, ungerechtfertigte Vermögensverschiebungen mit benachteiligender Wirkung für die Gläubiger auszugleichen. So geht es letztlich auch bei der Existenzvernichtungshaftung, wenngleich mediatisiert bzw. kanalisiert durch einen Anspruch der Gesellschaft, um die Erhaltung der Insolvenzmasse zugunsten der Gesellschaftsgläubiger. Die Ausgestaltung als Innenhaftung berücksichtigt damit den Gleichbehandlungsgrundsatz der Gläubiger als insolvenzrechtliche Maxime im Gegensatz zu einer nur einzelne Gläubiger begünstigenden Außenhaftung. Gegen eine gesellschaftsrechtliche Qualifikation spricht zudem, dass die Existenzvernichtungshaftung keine rechtsformspezifische Haftung ist.
Rz. 200
Aus rechtsvergleichender Sicht kommt die Existenzvernichtungshaftung dem im US-amerikanischen Recht verankerten Solvenztest nahe, der ebenfalls den Entzug von Mitteln verhindern soll, die zum Erhalt der Zahlungsfähigkeit oder der Vermeidung einer Überschuldung der Gesellschaft benötigt werden.
Rz. 201
Für eine gesellschaftsrechtliche Einordnung wird der Umstand der Gesellschafter-Haftung angeführt, denn es knüpfe die Haftung an die spezifische Verantwortlichkeit der Gesellschafter und ihre Stellung als solche an. Zudem handele sich um einen Tatbestand der Haftungsbegründung und nicht um eine – insolvenzrechtliche – Frage der Haftungsverwirklichung unter Knappheitsbedingungen. Ferner werden jedenfalls auf Tatbestandsebene (vgl. Rdn 48) angesichts des Bezugs der Haftung zu den Kapitalerhaltungsregeln leise Zweifel ob der Anwendbarkeit auf jedwede ausländische Gesellschaftsform geäußert.
Rz. 202
Vertreten wird ferner eine deliktsrechtliche Qualifikation des Haftungsdurchgriffs, die – vorbehaltlich einer wesentlich engeren Verbindung zu einer anderen Rechtsordnung – zu einer Anwendung des Rechts des Handlungsortes bzw. nach Wahl des Geschädigten des Erfolgsortes führen würde, Art. 40 Abs. 1 Satz 1, 2, 41 Abs. 1 EGBGB. Auch wird eine alternative Anknüpfung vorgeschlagen, wonach eine Haftung schon dann zulässig sein soll, wenn diese entweder nach dem Gesellschafts- oder nach dem Vertrags- bzw. Deliktsstatut gegeben ist; dies erscheint aber bereits deshalb nicht ratsam, da sich auf diese Weise nicht das sachnähere, sondern das strengere Recht durchsetzt. Schließlich befürworten Kindler und Weller eine Mehrfachqualifikation der Existenzvernichtungshaftung als gesellschafts-, delikts- und insolvenzrechtliche Regelung.
Rz. 203
Weder eine delikts- noch eine gesellschaftsrechtliche Qualifikation vermögen zu überzeugen. Zwar hat der BGH in Abkehr zu der bisherigen, spezifisch gesellschaftsrechtlichen Begründung (siehe Rdn 196, 201) in seiner Trihotel-Entscheidung die Haftung in § 826 BGB festgemacht, andererseits aber betont, dass sich die Haftung als folgerichtige Verlängerung des Schutzsystems der §§ 30, 31 GmbHG verstehe. Damit hat zwar zum einen die bislang für eine gesellschaftsrechtliche Einordnung angeführte dogmatische Fundierung der Haftung über §§ 30, 31 GmbHG noch stärker an Überzeugungskraft eingebüßt und es sprechen in der Tat gute Gründe für eine deliktsrechtliche Anknüpfung. Allerdings setzt die Haftung voraus, dass die Gesellschaft infolge des Eingriffs tatsächlich insolvent geworden ist. Zudem bestärkt die durch den BGH postulierte Ausgestaltung der Haftung als Innenhaftung mit Aktivlegitimation des Insolvenzverwalters die Verwandtschaft mit der Insolvenzanfechtung. Ferner ist der Haftungsdurchgriff nicht rechtsformspezifisch und sanktioniert die Aushebelung der gläubigerschützenden Regelungen im Rahmen eines geordneten Insolvenzverfahrens. Schließlich unterfallen dem Insolvenzstatut nach der Formulierung des Art. 4 Abs. 2 EuInsVO solche Rechtsfiguren, die dem Ausgleich einer die Gläubigergemeinschaft benachteiligenden Rechtshandlung dienen. Damit drängt sich eine insolvenzrechtliche Einordnung, jedenfalls aber über Art. 41 Abs. 1 EGBGB eine akzessorische Anknüpfung an das Insolvenzstatut auf.
Rz. 204
Wenngleich die Existenzvernichtungshaftung durchaus Wesenszüge eines gesellschaftsrechtlichen Rechtsinstituts trägt, sind...