Florian Kienle, Pius Dolzer
Rz. 61
Eine durch Sonderanknüpfung herbeigeführte Anwendung gesellschaftsrechtlicher Haftungsfiguren des Sitzrechts bewirkt eine inhaltliche Modifikation des ausländischen Gesellschaftsstatuts und stellt daher nach der Rechtsprechung des EuGH eine rechtfertigungsbedürftige Einschränkung der Niederlassungsfreiheit ex Art. 49, 54 AEUV dar. Daher kommt ihre Anwendung nur in Betracht, wenn eine darin liegende Beschränkung der Niederlassungsfreiheit entweder gem. Art. 52 AEUV, nach den Kriterien des EuGH, der sog. Gebhard- bzw. Centros-Formel, oder aber deshalb gerechtfertigt ist, weil eine Berufung auf die Niederlassungsfreiheit im konkreten Fall als missbräuchlich erscheint. Schließlich kann der Schutzbereich der Niederlassungsfreiheit bei bloß tätigkeitsbezogenen Beschränkungen teleologisch zu reduzieren sein.
a) Rechtfertigung gem. Art. 52 AEUV
Rz. 62
Gem. Art. 52 AEUV stehen die europäischen Grundfreiheiten der Anwendung solcher einzelstaatlicher Vorschriften nicht entgegen, die eine Sonderregelung für Ausländer vorsehen und aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind. Die Vorschrift betrifft damit offene Diskriminierungen durch Vorschriften, die im Sinne eines gemeinschaftsrechtlichen ordre public-Vorbehalts ausländerpolizeiliche Maßnahmen vorsehen. Im vorliegenden Kontext dürfte dieser Rechtfertigungsmöglichkeit kaum eine Bedeutung zukommen, da es regelmäßig weder um eine offene Diskriminierung von Auslandsgesellschaften geht, noch die genannten öffentlichen Schutzgüter durch deren Tätigkeit im Inland spezifisch betroffen sind. Deswegen ist auch die niederländische Regierung im Inspire Art-Verfahren mit ihrem Rekurs auf Art. 52 AEUV nicht durchgedrungen.
b) Rechtfertigung nach den Gebhard- bzw. Centros-Grundsätzen
Rz. 63
Eine generell-abstrakte Regelung, die zu einer Einschränkung der Niederlassungsfreiheit führt, kann nach ständiger Rechtsprechung des EuGH nur aufgrund zwingender Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein. Für die Rechtfertigungsprüfung ist der Kanon der sog. Gebhard-Formel maßgeblich, der insbesondere in der Rechtssache Centros auch für den Bereich der gesellschaftsrechtlichen Niederlassungsfreiheit herangezogen und in den Folgeentscheidungen jeweils nachgezeichnet wurde. Danach sind solche Maßnahmen vor der Niederlassungsfreiheit rechtfertigungsbedürftig, die die Ausübung der Grundfreiheiten behindern oder weniger attraktiv machen können. Eine Einschränkung ist gerechtfertigt, wenn sie (1) in nicht-diskriminierender Weise angewandt wird, (2) aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses, in (3) zur Erreichung des verfolgten Zieles geeigneter und schließlich (4) in nicht über das zur Zielerreichung erforderliche Maß hinausgehender Weise erfolgt.
Rz. 64
Wie bereits erwähnt (siehe Rdn 62), dürften die vorliegend interessierenden inländischen Gläubigerschutzinstrumente in keinem Falle eine offene Diskriminierung von Auslandsgesellschaften darstellen, da sie ihren Voraussetzungen nach unterschiedslos für sämtliche im Inland tätigen Gesellschaften anwendbar sind; denkbar ist dagegen, dass einzelne Regelungen faktisch Auslandsgesellschaften stärker belasten. Eine solche versteckte Diskriminierung bedarf ebenfalls einer Rechtfertigung aufgrund zwingender Gründe des Allgemeininteresses.
Rz. 65
Eine diskriminierende Anwendung inländischer Schutzinstrumente hat der BGH in der Ableitung einer Handelndenhaftung analog § 11 Abs. 2 GmbHG gegenüber dem Geschäftsleiter einer englischen private limited gesehen, der es entgegen der §§ 13d ff. HGB unterlassen hat, den Geschäftsbetrieb als Zweigniederlassung zum Handelsregister anzumelden. Zwar verpflichtet Art. 12 der Zweigniederlassungsrichtlinie (vgl. Rdn 13) die Mitgliedstaaten, geeignete Maßnahmen für den Fall anzudrohen, dass die erforderliche Offenlegung der Zweigniederlassung im Aufnahmestaat unterbleibt; dabei haben sie aber darauf zu achten, dass derartige Verstöße in sachlich und verfahrensrechtlich vergleichbarer Weise geahndet werden wie entsprechende Verstöße gegen nationales Recht. Als zulässige Sanktion einer Nichtanmeldung sieht das deutsche Recht aber in § 14 HGB allein die Festsetzung eines Zwangsgeldes und nicht die Konsequenz einer persönlichen Haftung vor.
Rz. 66
Die Festlegung, aufgrund welcher zwingender Gründe des Allgemeininteresses eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit erfolgt, obliegt dem jeweiligen mitgliedstaatlichen Gesetzgeber. Er ist dabei nicht auf Gründe des europäischen Gemeinwohls beschränkt, sondern kann im Rahmen der Zielvorgaben des EG-Vertrags von der ihm eingeräumten Einschätzungsprärogative Gebrauch machen. Der EuGH hat in seiner Entscheidungstrilogie als derartige Gründe den Schutz von Gläubigern, Minderheitsgesellschaftern, Arbeitnehmern, der Lauterkeit des Handelsverkehrs sowie die Wirksamkeit von Steuerkontrollen ...