Florian Kienle, Pius Dolzer
Rz. 11
Im Jahre 2002 hatte der EuGH in der Rechtssache Überseering über die Frage der Anerkennung der Rechts- und Parteifähigkeit einer nach dem Recht eines Mitgliedstaates, namentlich der Niederlande, wirksam gegründeten Gesellschaft, die an dem Ort ihrer Gründung jedoch keinerlei Geschäftstätigkeit ausübte, zu befinden. Der EuGH erkannte einer solchen Gesellschaft einen aus der Niederlassungsfreiheit der Art. 49, 54 AEUV folgenden Anspruch auf Anerkennung in sämtlichen Mitgliedstaaten zu, wonach die Gesellschaft als solche, d.h. als Kapitalgesellschaft, nach dem Recht ihres Gründungsstaates und damit ohne Umqualifizierung in eine inländische Gesellschaft anzuerkennen ist. Zwar kämen unter bestimmten Voraussetzungen eine Rechtfertigung der Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit aus Gründen des Allgemeinwohls in Betracht, nicht aber die Versagung der Rechts- und Parteifähigkeit, die eine völlige Negation der Niederlassungsfreiheit darstelle. Damit war zugleich der Anwendung der modifizierten Sitztheorie eine Absage erteilt.
Rz. 12
Knapp drei Jahre zuvor hatte der EuGH bereits die Grenzen einer Beschränkung der Niederlassungsfreiheit abgesteckt. Im Centros-Urteil, dem eine Konstellation der sekundären Niederlassungsfreiheit im Zusammenhang mit einer Briefkastengesellschaft zugrunde lag, stellte er hierfür in Fortschreibung der Kriterien aus dem Gebhard-Urteil vier Voraussetzungen auf. Danach müssen Beschränkungen (1) in nicht diskriminierender Weise angewendet werden, (2) auf zwingenden Gründen des Allgemeininteresses beruhen, (3) zur Erreichung des verfolgten Ziels geeignet sein und (4) nicht über das zur Zielerreichung Erforderliche hinausgehen.
Rz. 13
Die Trilogie – gesprochen wird mitunter von den "drei Hammerschlägen aus Luxemburg" – wurde im Jahre 2003 mit der Entscheidung in Sachen Inspire Art vervollständigt, die wiederum die sekundäre Niederlassungsfreiheit betraf. Die Entscheidung bestätigte die Centros-Entscheidung, entschied aber zugleich, dass das Recht der Mitgliedstaaten zur Beschränkung der Niederlassungsfreiheit durch die abschließenden Vorgaben der Zweigniederlassungsrichtlinie begrenzt sei. Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit in Form von Offenlegungspflichten für zuziehende Gesellschaften aus einem anderen Mitgliedstaat sind danach nur zulässig, soweit sie mit den Vorgaben der Zweigniederlassungsrichtlinie vereinbar sind. Nach Art. 12 der Richtlinie obliegt die Ausgestaltung von Sanktionen für Verstöße gegen derartige Offenlegungspflichten den Mitgliedstaaten. Derartige Sanktionen müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein sowie diskriminierungsfrei angewendet werden. Anderweitige mitgliedstaatliche Vorschriften, etwa ein Mindestkapitalerfordernis, sind dagegen unmittelbar an den Art. 49, 54 AEUV zu messen. Ferner hat der EuGH hervorgehoben, dass seine Rechtsprechungsgrundsätze auch im Falle solcher Gesellschaften Geltung beanspruchen, die in einem Mitgliedstaat nur mit dem Ziel gegründet wurden, ihre Tätigkeit hauptsächlich oder ausschließlich in einem anderen Mitgliedstaat auszuüben; gerade darin liege die Ausübung der Niederlassungsfreiheit. Die Judikate des EuGH betrafen mithin sämtlich ein Auseinanderfallen von Satzungs- und sich im Aufnahmestaat befindlichen (tatsächlichen) Verwaltungssitz.
Rz. 14
In dem Urteil SEVIC hat der EuGH die Trilogie aus Centros, Überseering und Inspire Art im Hinblick auf Zuzugsschranken des Aufnahmestaates für eine Verlegung des Satzungssitzes abgerundet, indem er entschieden hat, dass die Eintragung von Hereinverschmelzungen einer ausländischen Gesellschaft in einen Mitgliedstaat unter Auflösung ohne Abwicklung der ausländischen Gesellschaft und unter Übertragung ihres Vermögens als Ganzes auf eine andere (in casu: deutsche) Gesellschaft vor dem Hintergrund der Niederlassungsfreiheit sowie des europarechtlichen Diskriminierungsverbots nicht verweigert werden darf, wenn eine entsprechende Verschmelzung in Binnenkonstellationen eröffnet ist. Für die Durchführung von Verschmelzungen ist ferner auf die Richtlinie für grenzüberschreitende Verschmelzungen (RL 2005/56/EG) und die jeweiligen nationalen Umsetzungsbestimmungen (in Deutschland §§ 122a ff. UmwG) hinzuweisen. Entsprechend seiner Rechtsprechung in Verschmelzungskonstellationen hat der EuGH in der Rechtssache VALE Építési für Konstellationen unter Beteiligung nur eines Rechtsträgers entschieden, dass die Niederlassungsfreiheit auch die grenzüberschreitende Umwandlung (hier: von Italien nach Ungarn) unter Annahme einer inländischen Rechtsform gewährleistet, sofern der Zuzugsstaat eine solche formwechselnde Umwandlung auch für Binnensachverhalte vorhält, sog. Hereinformwechsel. An dem hiernach für die Voraussetzungen einer derartigen Umwandlung maßgeblichen Recht des Aufnahmestaates (hier: des UmwG) ist im Fall des OLG Nürnberg die Umwandlung einer luxemburgischen S.à.r.l. in eine deutsche GmbH noch gescheitert; im "Ernstfall", d.h...