Florian Kienle, Pius Dolzer
Rz. 105
Neben den originär insolvenzrechtlichen Maßnahmen oder solchen im Vorfeld der Eröffnung gibt es weitere Verfahren, die sachlich eng mit einem Insolvenzverfahren zusammenhängen, jedoch außerhalb des insolvenzmäßigen Gesamtverfahrens als kontradiktorische Verfahren ausgestaltet sind. Um solche insolvenztypischen Annexverfahren handelt es sich etwa bei Einzelklagen auf Aus- oder Absonderung, bei Insolvenzanfechtungsklagen oder Streitigkeiten um die Feststellung einer Forderung zur Insolvenztabelle. Im Kern geht es in diesem Zusammenhang um die Abgrenzung des Anwendungsbereichs der EuInsVO von demjenigen der EuGVVO oder schlagwortartig um die Reichweite der vis attractiva concursus, d.h. um die Frage, ob sich die Zuständigkeit für insolvenznahe Verfahren ebenfalls beim Insolvenzgericht konzentriert.
Rz. 106
In der Rechtssache Gourdain/Nadler hat der EuGH die in Art. 1 Abs. 2 lit. b) EuGVÜ (heute: EuGVVO) enthaltene Bereichsausnahme für Konkurs-, Vergleichs- und ähnliche Verfahren (sog. Insolvenzrechtsvorbehalt) dahingehend ausgelegt, als sie auch solche Verfahren erfasse, die unmittelbar aus einem Insolvenzverfahren hervorgehen und in engem Zusammenhang damit stehen, d.h. wenn "die konkret erhobene Klage ihre Rechtsgrundlage im (…) Konkursrecht hat". Der Normgeber der EuInsVO 2000 hatte diese Formulierung in Art. 25 Abs. 1 UAbs. 2 aufgegriffen und bestimmt, dass die automatische Anerkennung von Insolvenzentscheidungen auch für Entscheidungen gilt, die unmittelbar aufgrund des Insolvenzverfahrens ergehen und in engem Zusammenhang damit stehen, auch wenn sie von einem anderen Gericht getroffen werden. Im Übrigen fanden sich keine ausdrücklichen Regelungen zur Zuständigkeit bei Annexverfahren. Wenngleich damit die Möglichkeit einer Zuständigkeit nach Rechtsquellen außerhalb der EuInsVO ausdrücklich vorausgesetzt wurde, sprach doch der Wille des europäischen Normgebers, der mit EuGVVO und EuInsVO ein lückenloses Zuständigkeitssystem installieren wollte, dafür, die Zuständigkeit für solche Verfahren trotz Fehlens einer ausdrücklichen Bestimmung zumindest analog nach den Vorschriften der EuInsVO zu bestimmen.
Rz. 107
Mit Art. 6 Abs. 1 EuInsVO n.F. wurde die Rspr. des EuGH in Sachen Deko Marty kodifiziert. Demnach sind die Gerichte des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet das Insolvenzverfahren eröffnet worden ist, gleichsam zuständig für alle Klagen, die unmittelbar aus dem Insolvenzverfahren hervorgehen und in engem Zusammenhang damit stehen. Art. 6 Abs. 1 EuInsVO nennt insoweit beispielsweise Anfechtungsklagen, ErwG 35 zudem Klagen in Bezug auf Verpflichtungen, die sich im Verlauf des Insolvenzverfahrens ergeben, wie etwa solche zu Vorschüssen für Verfahrenskosten. Dagegen sollen sich Klagen wegen der Erfüllung von Verpflichtungen aus einem Vertrag, der vom Schuldner vor der Eröffnung des Verfahrens abgeschlossen wurden, nicht unmittelbar aus dem Verfahren ableiten (ErwG 35 S. 3). Ein Verwalter kann aber Annexklagen mit anderen zivil- oder handelsrechtlichen Klagen gegen denselben Beklagten zum Zweck ihrer gemeinsamen Entscheidung vor das Gericht am Wohnsitz des Beklagten bringen, soweit beide Klagen miteinander im Zusammenhang stehen und das betreffende Gericht nach der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 zuständig ist (Zusammenhangsklagen). Dabei gelten nach Maßgabe des Art. 6 Abs. 3 EuInsVO Klagen dann als miteinander im Zusammenhang stehend, wenn zwischen ihnen eine so enge Beziehung gegeben ist, dass eine gemeinsame Verhandlung und Entscheidung zweckmäßig ist, um die Gefahr divergierender Entscheidungen aus getrennten Verfahren zu vermeiden. Zu denken ist hier etwa an die Verbindung einer insolvenzrechtlichen Haftungsklage gegen einen Geschäftsführer mit einer gesellschaftsrechtlichen oder deliktsrechtlichen Klage (ErwG 35 letzter Satz).
Rz. 108
Im Einzelnen bleibt gleichwohl umstritten, welche Verfahren einen engen Zusammenhang i.S.d. Art. 6 EuInsVO bzw. eine hinreichende Sachnähe im Sinne der Rspr. des EuGH aufweisen, um sie der vis attractiva concursus im Sinne einer Zuständigkeitskonzentration beim Insolvenzgericht zu unterstellen. Die Einordnung kann neben der Frage der Zuständigkeit auch für andere Verfahrensaspekte von Relevanz sein. Im vorliegenden Zusammenhang ist von Interesse, dass die Zuständigkeit für Klagen aus Ansprüchen gegen die Gesellschafter einer insolventen GmbH wegen eigenkapitalersetzender Darlehen nach §§ 32a, 32b GmbHG a.F. regelmäßig dem Zuständigkeitssystem der EuGVVO unterstellt wurden; nach der ausschließlichen Verankerung des Rechts der Gesellschafterdarlehen in §§ 39, 135 InsO im Zuge des MoMiG dürfte indes das Regime der EuInsVO nunmehr näher liegen (siehe Rdn 169 ff.). In der Rechtssache Christopher Seagon ./. Deko Marty Belgium NV hat der EuGH eine Insolvenzanfechtungsklage dem Anwendungsbereich der EuInsVO zugeschlagen. Nur mäßig überzeugt dagegen die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache F-Tex ./. Lietuvos, wonach es ...