Florian Kienle, Pius Dolzer
Rz. 165
Von Interesse sind hier aber die Regelungen über die Kapitalerhaltung, die im Interesse der Gläubiger abstrakt präventiv den Abzug solcher Gesellschaftsmittel, die zur Erhaltung des Stammkapitals erforderlich sind, durch die Gesellschafter verhindern sollen und damit bereits im Vorfeld der Insolvenz der Absicherung der Gläubigerbefriedigung dienen. Die Regelungen hierüber wurden im Zuge der GmbH-Reform durch das MoMiG bedeutend entschärft. § 30 Abs. 1 GmbHG bestimmt, dass – vorbehaltlich eines Beherrschungs- oder Gewinnabführungsvertrags oder eines vollwertigen Rückzahlungsanspruchs (sog. bilanzielle Betrachtungsweise, relevant etwa bei cash pool) – das zur Erhaltung des Stammkapitals erforderliche Vermögen der Gesellschaft nicht an die Gesellschafter ausgezahlt werden darf. Nach § 31 Abs. 1 GmbHG hat der Empfänger einer Zahlung, die diesem Verbot zuwider geleistet wurde, diese der Gesellschaft zu erstatten. Ist diese Erstattung nicht zu erlangen, so statuiert § 31 Abs. 3 GmbHG eine Ausfallhaftung der übrigen Gesellschafter. Die Regelungen sind mithin einschlägig bei Sachverhalten, in denen eine Schmälerung des Gesellschaftskapitals durch einen konkreten Vorgang eintritt. Gemäß der Lebensweisheit "Wo kein Kläger, da kein Richter", werden sie häufig erst im Falle der Krise oder Insolvenz der Gesellschaft virulent.
Rz. 166
Aufgrund der Bezogenheit auf das Stammkapital der Gesellschaft erscheinen die Kapitalerhaltungsregeln als genuines Gesellschaftsrecht und als Spezifika der deutschen GmbH, die tatbestandlich losgelöst sind von einer drohenden Insolvenz, einer bestehenden Unterbilanz oder auch nur eines konkreten Kapitalbedarfs, sondern vielmehr das Stammkapital einer Rückzahlung abstrakt und absolut entziehen. Ferner ist der dogmatische Zusammenhang mit der Kapitalaufbringung äußerst eng, das Kapitalerhaltungsrecht ist mit dem Verbot der Einlagenrückgewähr verknüpft. Es liegt daher nahe, das Recht der Kapitalaufbringung und das der Kapitalerhaltung derselben Rechtsordnung zu entnehmen.
Rz. 167
Dies hält jedoch einer genaueren Betrachtung nur bedingt stand. Zum einen stellen die Vorschriften nicht auf das gesetzliche Mindestkapital, sondern auf das konkrete satzungsmäßige Stammkapital der Gesellschaft und mithin auf deren, nach Einschätzung ihrer Gründer, konkreten Finanzierungsbedarf ab. Ferner besteht der an die Verletzung der Ausschüttungssperre anknüpfende Erstattungsanspruch nicht nur in Höhe des satzungsmäßigen Stammkapitals, sondern erstreckt sich auf eine etwa darüber hinausgehende Überschuldung. Der Anspruch geht damit inhaltlich nicht nur, wie der Wortlaut von § 30 Abs. 1 GmbHG nahe zu legen scheint, auf Wiederherstellung des Stammkapitals, sondern auf Beseitigung der Überschuldung, sofern eine Ausschüttung in entsprechender Höhe erfolgt ist. Mit dieser Bezogenheit auf die konkrete Überschuldung wird der abstrakt-präventive Charakter der Kapitalerhaltungsregeln relativiert. Der Schwerpunkt der Regelung verlagert sich weg vom abstrakt-präventiven Schutz des Stammkapitals hin zu der Beseitigung eines konkreten Vermögensentzuges zu Lasten der verwertbaren Vermögensmasse. Damit aber rückt der Haftungstatbestand in die Nähe der Insolvenzanfechtung. Nach überwiegender Meinung aber bleibt die Entfernung für eine insolvenzrechtliche Qualifikation der Haftungsfigur dennoch zu groß.
Rz. 168
Danach können die Regelungen gegenüber einer europäischen Auslandsgesellschaft nur über eine Sonderanknüpfung bzw. eine residuale Geltung des Gesellschaftsrechts am Ort des Verwaltungssitzes zur Geltung gebracht werden. Im Lichte der Keck-Entscheidung erweisen sich die Kapitalerhaltungsvorschriften aber als unbedenkliche Marktrückzugsregelungen, da es um die Verhinderung von Desinvestitionen des Gesellschaftsvermögens geht (siehe Rdn 52, 84). Weil ferner neben der gesellschaftsrechtlichen Qualifikation die Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht Tatbestandsmerkmal der Ansprüche ist, führt eine Verlegung des COMI nach Anspruchsentstehung i.d.R. nicht zu einem Statutenwechsel.