Florian Kienle, Pius Dolzer
Rz. 49
Es fragt sich, ob sich eine solche "Qualifikationslösung" im Hinblick auf die Niederlassungsfreiheit nicht als Trojanisches Pferd entpuppt. Die in Sachen Centros, Überseering und Inspire Art festgestellten Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit waren sämtlich Folge der gesellschaftsrechtlichen Anknüpfung an den tatsächlichen Verwaltungssitz und der sich hieraus ergebenden Erfordernisse des gesellschaftsrechtlichen Sachrechts des Zuzugsstaates. Primär erschien damit das fremde Personalstatut im Lichte der Niederlassungsfreiheit problematisch.
Rz. 50
Angesichts der europäischen Provenienz der in der EuInsVO enthaltenen Kollisionsnormen erscheint demgegenüber die dadurch generierte Maßgeblichkeit des inländischen Rechts des Zuzugsstaates nicht als im selben Maße dem Verdikt der Beschränkung der Niederlassungsfreiheit ausgesetzt. Zwar ist die EuInsVO als sekundäres Gemeinschaftsrecht auch den primärrechtlichen Grundfreiheiten verpflichtet. Es wird aber davon auszugehen sein, dass die Berufung der lex fori concursus aufgrund des integrativen, binnenmarktförderlichen Charakters der EuInsVO nicht mit den Grundfreiheiten, insbesondere der Niederlassungsfreiheit, konfligiert. Aufgrund der in Art. 4 Abs. 2 EuInsVO enthaltenen Verweisung auf das Recht der einzelnen Mitgliedstaaten sei vielmehr davon auszugehen, dass sich gläubigerschützende Haftungstatbestände, die an das Insolvenzverfahren anknüpfen, kollisionsfrei in das System der Grundfreiheiten einfügen; Gegenstand des Insolvenzrechts sei nicht der niederlassungsrechtlich problematische abstrakte Gläubigerschutz, sondern der Schutz konkret betroffener Gläubigerinteressen. Auch sei der Integrationsprozess im Bereich des Insolvenzrechts ausreichend fortgeschritten. Damit erweise sich das Insolvenzrecht für die Anwendung inländischer Haftungstatbestände als "sicherer Hafen".
Rz. 51
Es sind aber auch mahnende Stimmen zu vernehmen, die vor einer übereilten "Flucht in das Insolvenzrecht" warnen. So wird der obigen Auffassung entgegengehalten, die Etikettierung einer Norm als gesellschaftsrechtlich oder nicht-gesellschaftsrechtlich sei sub specie der Art. 49, 54 AEUV ohne Belang, so dass auch im Falle insolvenzrechtlicher Qualifikation eine Rechtfertigungsprüfung vor der Niederlassungsfreiheit erforderlich sei. Ausländische Gesellschaften könnten sich aufgrund der strengen insolvenzrechtlichen Haftungsinstitute von einer Sitzverlegung nach Deutschland abhalten lassen.
Rz. 52
Indes muss der EuInsVO jedenfalls ein gewisses Gewicht im Rahmen der Beurteilung zukommen, ob die Anwendung einer inländischen Regelung gegen die Niederlassungsfreiheit verstößt. Freilich können hieran aber nur solche inländischen Normen teilhaben, die tatsächlich einen insolvenzrechtlichen Gehalt haben. Ferner wäre jedenfalls auch im Falle insolvenzrechtlicher Qualifikation zwischen solchen Rechtssätzen zu differenzieren, die die Gesellschaftsverfassung oder in anderer Weise deren Marktzutritt betreffen, und solchen, die lediglich die Teilnahme der Gesellschaft am Rechtsverkehr regeln. Die vorliegend diskutierten Marktrückzugsregelungen, die überwiegend als Desinvestitionshindernisse (Existenzvernichtungshaftung, Eigenkapitalersatzrecht) daherkommen, erweisen sich überwiegend als tätigkeitsbezogen und bedürfen auch aus diesem Grunde keiner Rechtfertigung durch zwingende Allgemeininteressen (siehe ausführlich Rdn 84 ff.). In der Rechtssache Kornhaas bestätigte der EuGH die Vereinbarkeit des – im Vorlagebeschluss des BGH insolvenzrechtlich qualifizierten – § 64 Abs. 2 S. 1 GmbHG a.F. (nunmehr § 15b InsO) mit der Niederlassungsfreiheit. Noch eindeutiger im Sinne einer fraglosen Primärrechtskonformität hatte sich der BGH in seinem das Eigenkapitalersatzrecht betreffenden Urteil aus dem Jahre 2011 positioniert.
Rz. 53
Mithin sind solche Haftungstatbestände des inländischen Gläubigerschutzrechts im Hinblick auf die Niederlassungsfreiheit regelmäßig unbedenklich, die sich als Bestandteil der lex fori concursus i.S.d. Art. 4 Abs. 2 EuInsVO erweisen. Die Reichweite des Insolvenzstatuts und damit derjenige Bereich, der mit Blick auf die Niederlassungsfreiheit weniger bedenklich erscheint, ist in dem noch darzustellenden Art. 4 Abs. 2 EuInsVO näher ausgestaltet (siehe Rdn 152 ff.).