Florian Kienle, Pius Dolzer
Rz. 19
Die Reichweite des in den Art. 49, 54 AEUV enthaltenen kollisionsrechtlichen Herkunftslandprinzips deckt sich im Wesentlichen mit derjenigen des Gesellschaftsstatuts im herkömmlichen Sinne. Es rechnen dazu die Gründung, Rechtsfähigkeit, körperschaftliche Verfassung, Geschäftsführung, Vertretung, Organ- und Gesellschafterhaftung, Umstrukturierung und Beendigung der Gesellschaft. Europäische Auslandsgesellschaften sind damit grundsätzlich im Ganzen nach dem Gesellschaftsrecht ihres Gründungsstaates zu beurteilen. Diese Konsequenz scheint auch die nationale Rechtsprechung gezogen zu haben.
Rz. 20
Eine andere Auffassung vertritt Altmeppen. Danach gilt für europäische Kapitalgesellschaften mit inländischem Sitz im Grundsatz weiterhin deutsches Kapitalgesellschaftsrecht. Aus der Inspire Art-Entscheidung ergebe sich nur die Unanwendbarkeit des strengeren inländischen Gründungsrechts bzw., dass sich gesellschaftsrechtliche Grundlagen(-geschäfte), z.B. Nach- und Umgründungen oder das Erlöschen der Gesellschaft, nach deren Gründungsrecht beurteilten. Indes ergebe sich aus der Niederlassungsfreiheit nicht, dass europäische Auslandsgesellschaften auch sonstige inländische Vorschriften, insbesondere des Gläubigerschutzes, missachten dürften. Mit Ausnahme der Kapitalaufbringungsregeln will Altmeppen damit sämtliche Gläubigerschutzfiguren, namentlich die Regelungen über die Insolvenzverschleppung, die Existenzvernichtungs- und die Kapitalerhaltungshaftung sowie die Kapitalersatzregeln ungeachtet ihrer Qualifikation auch auf Scheinauslandsgesellschaften angewendet wissen. Ob sich diese Auffassung angesichts der eindeutigen Aussagen des EuGH in Sachen Inspire Art durchsetzen wird, bleibt zweifelhaft.
Rz. 21
Ähnlich will auch Kindler nur solche Vorschriften unangewendet lassen, die die Gesellschaftsgründung betreffen, während für die Anwendung solcher gesellschaftsrechtlicher Regelungen Raum bleibe, die sich auf die Tätigkeit der Gesellschaft oder auf das Verhalten von Gesellschaftern oder Organen beziehen. Auch habe die Niederlassungsfreiheit keinen kollisionsrechtlichen Gehalt, sondern erschöpfe sich im Verbot der Anwendung bestimmter sachrechtlicher Beschränkungen. Dementsprechend will Kindler auch im Falle europäischer Auslandsgesellschaften keine grundsätzliche Gründungsanknüpfung mit rechtfertigungsbedürftigen Ausnahmen, sondern ein Nebeneinander des gesellschaftsrechtlichen Sitz- und Gründungsrechts annehmen und nur für Fragen der Gründung auf Letzteres zugreifen. Dies erscheint jedoch nicht nur als schwer umsetzbar, sondern auch im Hinblick auf den weiten Beschränkungsbegriff des EuGH als zu kurz gegriffen.
Rz. 22
Freilich ist das Sitzrecht aber dann anwendbar, wenn das zunächst berufene Gründungsrecht – weil es ebenfalls der Sitztheorie folgt – auf dieses zurückverweist, Art. 4 Abs. 1 Satz 2 EGBGB.