Rz. 129

Mit Urt. v. 17.1.2006 hat der EuGH in der Rechtssache Staubitz-Schreiber entschieden, dass das Gericht des Mitgliedstaates, in dessen Gebiet der Schuldner bei Stellung des Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen hat, auch dann zuständig bleibt, wenn der Schuldner nach Antragstellung, aber vor der Eröffnungsentscheidung den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaates verlegt.[351] Der EuGH konstatierte zunächst, dass Art. 3 Abs. 1 EuInsVO über die Fortdauer der Zuständigkeit keine Aussage enthalte.[352] Ein Wechsel der Zuständigkeit vom zuerst befassten Gericht zu einem Gericht eines anderen Mitgliedstaates widerspräche jedoch den Zielen der Verordnung.[353] Damit hat das Gericht dem Grundsatz der perpetuatio fori im Rahmen der EuInsVO Geltungskraft zugesprochen.[354] Indes führt eine Sitzverlegung vor Antragstellung vorbehaltlich der Widerlegung der Vermutung des Art. 3 Abs. 1 UAbs. 2 EuInsVO auch zu einem Wechsel der Eröffnungszuständigkeit.[355]

 

Rz. 130

Die weitere Bedeutung der Entscheidung liegt in dem Zeitpunkt, den der EuGH dabei als maßgeblich erachtet, namentlich denjenigen der Antragstellung, d.h. der Anhängigkeit.[356] Zuständigkeitsfixierung und Beschlagswirkung fallen im Rahmen der EuInsVO mithin auseinander.[357] Damit hat der EuGH den neben der herkömmlichen Form der professionellen Firmenbestattung durch Sitzverlegung ins Ausland und Einstellung des Geschäftsbetriebes[358] erkennbaren Tendenzen, der Gesellschaft kraft Sitzverlegung ein günstiges Insolvenzstatut zu verschaffen (forum shopping),[359] zumindest insofern einen Riegel vorgeschoben, als eine Sitzverlegung nach Antragstellung keinen Zuständigkeitswechsel mehr herbeiführen kann.[360] Die Erwägungen des EuGH im Falle Staubitz-Schreiber, namentlich "zu verhindern, dass es für die Parteien vorteilhafter ist, Vermögensgegenstände oder Rechtsstreitigkeiten in einen anderen Mitgliedstaat zu verlagern, um auf diese Weise eine verbesserte Rechtsstellung anzustreben" und die Gläubiger nicht zu zwingen, "gegen den Schuldner immer wieder dort vorzugehen, wo dieser sich gerade für kürzere oder längere Zeit niederlässt", sondern diesen eine höhere Rechtssicherheit zu gewährleisten, da sie "die im Fall der Zahlungsunfähigkeit des Schuldners zu tragenden Risiken in Bezug auf den Ort beurteilt haben, an dem der Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen lag, als sie mit ihm rechtliche Beziehungen eingingen",[361] hätten indes auch unter dem Regime der EuInsVO einen früheren Zeitpunkt getragen und damit das forum shopping noch weiter erschweren können.[362] Im deutschen nationalen Recht werden entsprechende Manipulationen dadurch zu erschweren versucht, dass einer Verlegung des Schuldnersitzes nach Einstellung der wirtschaftlichen Tätigkeit keine Wirkung für die Zuständigkeit des Insolvenzgerichts beigemessen wird.[363] Dies gilt sowohl für die Verlegung des Satzungssitzes[364] als auch für die Verlegung des Verwaltungssitzes.[365] Gleichermaßen lässt die nationale Rechtsprechung eine manipulative Sitzverlegung zwecks Firmenbestattung[366] bzw. eine reine "Scheinsitzverlegung"[367] nicht für einen Zuständigkeitswechsel ausreichen und beugt auch damit dem forum shopping unabhängig von der Frage der Anhängigkeit vor. Paradigmatisch ist der Fall der Brochier GmbH & Co. KG,[368] die unter Beibehaltung ihrer in Deutschland belegenen Betriebsstrukturen ihr Unternehmen auf eine in London ansässige Limited übertragen hat, um in den Genuss des sanierungsfreundlicheren englischen Insolvenzrechts[369] zu kommen. Sowohl das von der Geschäftsleitung angegangene englische als auch das parallel von den deutschen Arbeitnehmern angerufene deutsche Insolvenzgericht haben aufgrund des hier belegenen operativen Geschäfts einen Interessenmittelpunkt in Deutschland angenommen. Die Entscheidungssequenz macht deutlich, dass die Insolvenzgerichte mittlerweile unionsweit bestrebt sind, das forum shopping zu unterbinden; ohne Bestehen einer korrespondierenden Faktenlage vermag die Verlegung des Satzungssitzes bzw. die formale Übertragung des Unternehmens auf einen ausländischen Rechtsträger die Eröffnungszuständigkeit nicht zu beeinflussen.[370] Damit wird insbesondere auch den Vorgaben des EuGH aus dessen Eurofood-Urteil (siehe Rdn 122) Rechnung getragen, wonach der Interessenmittelpunkt objektiv und für Dritte erkennbar sein muss.[371] Im Bereich der natürlichen Personen ist das Phänomen unter dem Schlagwort "Restschuldbefreiungstourismus" in Erscheinung getreten.[372]

Der 2015 neu eingefügte Art. 3 Abs. 1 UAbs. 2 Satz 2 EuInsVO sieht zudem vor, dass die Vermutung des Satzes 1 nur gilt, wenn der Sitz nicht in einem Zeitraum von drei Monaten vor Antragsstellung in einen anderen Mitgliedstaat verlegt wurde ("look back period"). Als gläubigerschützende Sperrfrist führt dies zu einer weiteren Eindämmung des forum shopping auch schon unmittelbar vor Antragstellung.[373]

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