Florian Kienle, Pius Dolzer
Rz. 63
Eine generell-abstrakte Regelung, die zu einer Einschränkung der Niederlassungsfreiheit führt, kann nach ständiger Rechtsprechung des EuGH nur aufgrund zwingender Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein. Für die Rechtfertigungsprüfung ist der Kanon der sog. Gebhard-Formel maßgeblich, der insbesondere in der Rechtssache Centros auch für den Bereich der gesellschaftsrechtlichen Niederlassungsfreiheit herangezogen und in den Folgeentscheidungen jeweils nachgezeichnet wurde. Danach sind solche Maßnahmen vor der Niederlassungsfreiheit rechtfertigungsbedürftig, die die Ausübung der Grundfreiheiten behindern oder weniger attraktiv machen können. Eine Einschränkung ist gerechtfertigt, wenn sie (1) in nicht-diskriminierender Weise angewandt wird, (2) aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses, in (3) zur Erreichung des verfolgten Zieles geeigneter und schließlich (4) in nicht über das zur Zielerreichung erforderliche Maß hinausgehender Weise erfolgt.
Rz. 64
Wie bereits erwähnt (siehe Rdn 62), dürften die vorliegend interessierenden inländischen Gläubigerschutzinstrumente in keinem Falle eine offene Diskriminierung von Auslandsgesellschaften darstellen, da sie ihren Voraussetzungen nach unterschiedslos für sämtliche im Inland tätigen Gesellschaften anwendbar sind; denkbar ist dagegen, dass einzelne Regelungen faktisch Auslandsgesellschaften stärker belasten. Eine solche versteckte Diskriminierung bedarf ebenfalls einer Rechtfertigung aufgrund zwingender Gründe des Allgemeininteresses.
Rz. 65
Eine diskriminierende Anwendung inländischer Schutzinstrumente hat der BGH in der Ableitung einer Handelndenhaftung analog § 11 Abs. 2 GmbHG gegenüber dem Geschäftsleiter einer englischen private limited gesehen, der es entgegen der §§ 13d ff. HGB unterlassen hat, den Geschäftsbetrieb als Zweigniederlassung zum Handelsregister anzumelden. Zwar verpflichtet Art. 12 der Zweigniederlassungsrichtlinie (vgl. Rdn 13) die Mitgliedstaaten, geeignete Maßnahmen für den Fall anzudrohen, dass die erforderliche Offenlegung der Zweigniederlassung im Aufnahmestaat unterbleibt; dabei haben sie aber darauf zu achten, dass derartige Verstöße in sachlich und verfahrensrechtlich vergleichbarer Weise geahndet werden wie entsprechende Verstöße gegen nationales Recht. Als zulässige Sanktion einer Nichtanmeldung sieht das deutsche Recht aber in § 14 HGB allein die Festsetzung eines Zwangsgeldes und nicht die Konsequenz einer persönlichen Haftung vor.
Rz. 66
Die Festlegung, aufgrund welcher zwingender Gründe des Allgemeininteresses eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit erfolgt, obliegt dem jeweiligen mitgliedstaatlichen Gesetzgeber. Er ist dabei nicht auf Gründe des europäischen Gemeinwohls beschränkt, sondern kann im Rahmen der Zielvorgaben des EG-Vertrags von der ihm eingeräumten Einschätzungsprärogative Gebrauch machen. Der EuGH hat in seiner Entscheidungstrilogie als derartige Gründe den Schutz von Gläubigern, Minderheitsgesellschaftern, Arbeitnehmern, der Lauterkeit des Handelsverkehrs sowie die Wirksamkeit von Steuerkontrollen anerkannt. Per se nicht ausreichend ist aber alleine der Umstand des Fehlens eines Mindesthaftkapitals einer ausländischen Kapitalgesellschaft, wie der EuGH bereits vorausschauend klargestellt hat.
Rz. 67
Auch im Hinblick auf die Geeignetheit der Maßnahme zur Zielerreichung steht dem nationalen Gesetzgeber eine Einschätzungsprärogative zu. Die Geeignetheit ist erst dann nicht mehr gegeben, wenn die Zielerreichung anhand der vorgesehenen Maßnahme zu ungewiss erscheint, wie der EuGH in seinem Bosman-Urteil zum Ausdruck gebracht hat. Wie es um die Geeignetheit von Mindestkapitalerfordernissen steht, ist zumindest zweifelhaft; zwar wurde das Prinzip des Mindesthaftungsfonds, wie es der Zweiten Gesellschaftsrechtlichen Richtlinie zugrunde liegt, einst als Eckpfeiler des europäischen Gesellschaftsrechts angesehen; es fragt sich aber, ob über eine Seriositätsschwelle hinaus damit ein Mehr an Gläubigerschutz zu erzielen ist, zumal mittlerweile auch der deutsche Gesetzgeber mit der Schaffung der haftungsbeschränkten Unternehmergesellschaft im Zuge des MoMiG zu erkennen gegeben hat, dass er an dem Prinzip des Mindesthaftkapitals nicht durchweg festhält. Der Schwerpunkt der Diskussion um das Mindestkapitalprinzip liegt jedoch auf der Ebene der Erforderlichkeit.
Rz. 68
Die Prüfung der Erforderlichkeit der Anwendung eines inländischen Rechtsinstituts besteht aus einer Abwägungsentscheidung zwischen dem durch dieses Institut geschützten konkreten Allgemeininteresse und der Bedeutung der Niederlassungsfreiheit sowie der Intensität ihrer Beeinträchtigung durch die Anwendung dieses Instituts. Hierbei kommt dem nationalen Gesetzgeber wiederum eine Einschätzungsprärogative zu. Dabei ist die Rechtfertigungshürde aufgrund des regelmäßig langfristigen Charakters einer Niederlassung i.S.v. Art. 49, 54 AEUV wohl niedriger anzusiedeln als im Falle einer Beschränkung der Dienst...