Florian Kienle, Pius Dolzer
Rz. 78
In den Rechtssachen Centros und Inspire Art hat der EuGH seine in anderem Zusammenhang getätigte Aussage, wonach eine missbräuchliche Berufung auf Gemeinschaftsrecht nicht gestattet ist, auch für die Niederlassungsfreiheit im Kontext von Auslandsgesellschaften bekräftigt. Dabei hat der EuGH vorausschauend das Entstehen einer kollisionsrechtlichen Schutzlücke durch Geltung des Gründungsrechts als tauglichen Gegenstand eines Missbrauchseinwands ausgeschlossen und den Einwand auf konkrete Fälle einer missbräuchlichen Gestaltung beschränkt. Dies gilt selbst dann, wenn die Auslandsgesellschaft mit Ausnahme ihrer Gründung keinerlei Verbindung zu ihrem Gründungsstaat aufweist. So führt der Gerichtshof in Sachen Centros aus: "Damit kann es für sich allein keine missbräuchliche Ausnutzung des Niederlassungsrechts darstellen, wenn ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats, der eine Gesellschaft gründen möchte, diese in dem Mitgliedstaat errichtet, dessen gesellschaftsrechtliche Vorschriften ihm die größte Freiheit lassen (…). (…) Dass eine Gesellschaft in dem Mitgliedstaat, in dem sie ihren Sitz hat, keine Geschäftstätigkeit entfaltet und ihre Tätigkeit ausschließlich im Mitgliedstaat ihrer Zweigniederlassung ausübt, belegt (…) noch kein missbräuchliches oder betrügerisches Verhalten, das es dem letzteren Mitgliedstaat erlauben würde, auf diese Gesellschaft die Gemeinschaftsvorschriften über das Niederlassungsrecht nicht anzuwenden."
Rz. 79
Entsprechend hat der BGH im Hinblick auf eine liechtensteinische Gesellschaft entschieden, deren Geschäftstätigkeit weitgehend in der Bundesrepublik stattfand. Ein Missbrauch der im EWR-Abkommen vorgesehenen Niederlassungsfreiheit liege selbst dann nicht vor, wenn eine Gesellschaft in einem Vertragsstaat gegründet werde, um in den Genuss vorteilhafter Rechtsvorschriften zu kommen, obwohl sie ihre Tätigkeit von vornherein ausschließlich in einem anderen Vertragsstaat ausübe. Sogar die bewusste Ausnutzung unterschiedlicher Rechtssysteme stellt für sich allein genommen noch keinen Missbrauch dar, auch wenn sie in der offenen Absicht erfolgt, die "größte Freiheit" zu erzielen und mit einer ausländischen Briefkastengesellschaft die zwingenden inländischen Normativbestimmungen zu umgehen.
Rz. 80
Eine strukturelle Lösung des Gläubigerdilemmas lässt sich somit anhand des Missbrauchsgedankens jedenfalls nicht erzielen. Ferner ist, um von einem Missbrauch gerade der Niederlassungsfreiheit ausgehen zu können, auch eine kollisionsrechtliche Komponente erforderlich; der etwa in einem existenzvernichtenden Eingriff liegende Missbrauch auf Ebene des nationalen Rechts kann noch nicht zur Versagung der Niederlassungsfreiheit führen.
Rz. 81
Eine missbräuchliche Ausnutzung der Niederlassungsfreiheit könnte möglicherweise dann attestiert werden, wenn ein kollisionsrechtlicher Anknüpfungspunkt zu dem Zweck manipuliert wird, anstelle des inländischen Rechts dasjenige eines anderen Mitgliedstaates zur Anwendung zu bringen, während der Inlandsbezug unverändert fortbesteht. In der Literatur werden solche Gestaltungen als U-turn-Konstruktionen bezeichnet. In den Rechtssachen van Bisbergen und TV 10 hat der EuGH im Zusammenhang mit der Dienstleistungsfreiheit entschieden, dass sich die Angehörigen eines Mitgliedstaates dessen Rechtsvorschriften nicht dadurch entziehen können, dass sie ihre Niederlassung in einen anderen Mitgliedstaat verlagern, um von dort aus in Ausübung der Grundfreiheiten den inländischen Markt unter Umgehung von dessen Rechtsvorschriften zu bedienen. Gleiches hat der EuGH für die künstliche Schaffung eines grenzüberschreitenden Bezuges, um in den Genuss der Grundfreiheiten zu gelangen, entschieden. In der Rechtssache Leclerc hat er die Anwendung französischer Vorschriften auf Reimporte nicht als Beschränkung der Warenverkehrsfreiheit angesehen, "wenn sich aus den objektiven Umständen ergeben sollte, dass die betreffenden Bücher allein zum Zwecke ihrer Wiedereinfuhr ausgeführt worden sind, um eine gesetzliche Regelung (…) zu umgehen". In der Rechtssache Bouchoucha hat der Gerichtshof im Hinblick auf Berufsausbildungsvorschriften entsprechend für die Niederlassungsfreiheit entschieden. In diesem Sinne hat auch der BGH die Umgehung eines inländischen Gewerbeverbots gegen den Geschäftsführer einer GmbH durch den Einsatz einer Auslandsgesellschaft als taugliche Gestaltung für einen Missbrauch der Niederlassungsfreiheit eingestuft.
Rz. 82
Gespiegelt auf Scheinauslandsgesellschaften könnte eine missbräuchliche Gestaltung darin erblickt werden, dass eine Inlandsgesellschaft künstlich die Voraussetzungen für einen Statutenwechsel herbeiführt ohne eine korrespondierende Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse. Eine Verlegung des Satzungssitzes mit der Konsequenz der Anwendbarkeit eines anderen Rechts kommt allerdings nicht in Betracht, wenn die Rechtsordnung des Gründungsstaats die Rechtsfähigkeit an einen inländischen Satzungssit...