Florian Kienle, Pius Dolzer
I. Unanwendbarkeit abstrakt-präventiver Gläubigerschutzregeln und von Haftungstatbeständen inländischen Rechts
Rz. 28
Infolge der Verdrängung der Sitz- durch die Gründungstheorie ist das Recht des Sitzstaates in seiner Wächterfunktion über die in seinem Hoheitsgebiet ansässigen Gesellschaften im Hinblick auf schutzwürdige Interessen Dritter, namentlich der Gläubiger, Minderheitsgesellschafter und Arbeitnehmer sowie des Fiskus, stark eingeschränkt.
Rz. 29
Aus der Niederlassungsfreiheit, wie sie durch den EuGH ausgestaltet wurde, folgt nicht nur das Verbot spezifischer Restriktionen für europäische Auslandsgesellschaften, sondern die Unanwendbarkeit des deutschen (Gründungs-)Rechts einschließlich seiner einzelnen Komponenten wie etwa des Grundsatzes der realen Kapitalaufbringung. Damit scheidet aber auch eine Anwendung seiner einzelnen Ausprägungen wie etwa die Vorschriften über die verdeckte Sacheinlage oder die Anforderungen an Vorratsgründungen aus. Die insolvenzprophylaktische Wirkung dieser abstrakt-präventiv gläubigerschützenden Regelungen des deutschen Rechts kann sich damit im Hinblick auf Auslandsgesellschaften nicht entfalten.
Rz. 30
Aus der europarechtlich bedingten Anerkennung der Rechtsfähigkeit einer Auslandsgesellschaft folgt zugleich, dass deren Personalstatut grundsätzlich auch in Bezug auf die Haftung für in ihrem Namen begründete rechtsgeschäftliche Verbindlichkeiten einschließlich der Frage nach einer etwaigen diesbezüglichen persönlichen Haftung ihrer Gesellschafter oder Geschäftsführer gegenüber den Gesellschaftsgläubigern maßgeblich ist. Selbiges gilt für die Sanktionen, die an die Nichterfüllung der Mindestkapitalvorschriften geknüpft sind, z.B. die Anordnung einer persönlichen Haftung der Geschäftsführer für den Fall, dass das Kapital nicht den im nationalen Recht vorgeschriebenen Mindestbetrag erreicht oder während des Betriebes unter diesen sinkt.
II. Schutzdefizite durch Anwendung des Gründungsrechts
Rz. 31
Zahlreiche ausländische Staaten stellen keine oder nur geringe Anforderungen an die Kapitalausstattung ihrer Gesellschaften, beispielsweise England, Irland und Frankreich. So verlangt etwa der englische Companies Act 2006 keine Einzahlung eines bestimmten Mindesthaftkapitals bei Gründung einer private limited. Anders als bei Aktiengesellschaften bedingt auch die europäische Normgebung kein Mindestkapital bei Gesellschaften mit beschränkter Haftung. Die Öffnung des deutschen Rechtsraums für Auslandsgesellschaften ohne zwingendes Mindestkapital stößt zwar einerseits auf Bedenken im Hinblick auf den Schutz inländischer Gläubiger, die nicht mehr auf das Vorhandensein eines bestimmten Haftungsfonds vertrauen können und mit Geschäftspartnern konfrontiert werden, die nicht die Seriositätsschwelle des GmbHG genommen haben. Andererseits aber hat der Gesetzgeber des MoMiG mit der UG (haftungsbeschränkt) eine Gründungsvariante ohne zwingende Kapitalausstattung zur Verfügung gestellt und damit selbst sein zentrales Konzept eines kapitalbasierten Gläubigerschutzes aufgeweicht.
Rz. 32
Skeptisch stimmt viele der verbreitete Einsatz sog. pseudo foreign companies – zu Deutsch Scheinauslandsgesellschaften, d.h. solcher Gesellschaften, die abgesehen von Gründung und Rechtsform keinen Bezug zu ihrem Gründungsstaat aufweisen. Deren Einsatz beruht häufig gerade auf der Bestrebung, das Haftungs- und Schutzsystem des deutschen Rechts auszuhebeln oder um den mit der Gründung einer deutschen GmbH verbundenen Aufwand zu reduzieren. Sie werden spöttisch auch als "Billig-GmbHs" bezeichnet, wobei dies freilich nach Einführung der UG (haftungsbeschränkt) auch für diese angeführt werden kann. Der breiten Öffentlichkeit bekannt ist ferner die dysphemistische Bezeichnung als "Briefkastengesellschaft", bei der regelmäßig der Verdacht des Illegitimen zumindest mitschwingt und durch verschiedene Skandale (Panama Papers) weiter befeuert wird. Im Nachgang zur Überseering-Entscheidung des EuGH soll die Zahl der Gründungen von private limited companies englischer Provenienz um monatlich 3.000 gestiegen sein und sich eine auf limited-Gründungen spezialisierte Branche etabliert haben. Die Attraktivität der limited wurde durch die Einsatzmöglichkeit als Komplementärin im Rahmen einer "Ausländischen Kapitalgesellschaft & Co. KG" noch gesteigert (sog. grenzüberschreitende Typenvermischung). In der Praxis ist jedoch seit langem ein kontinuierlicher Rückgang der im Inland aktiven Scheinauslandsgesellschaften zu konstatieren, was nicht nur an der Effektivierung inländischer Schutzmechanismen, der Einführung der UG (haftungsbeschränkt) und des vereinfachten Gründungsverfahrens mithilfe des Musterprotokolls i.S.v. § 2 Abs. 1a GmbHG durch das MoMiG, s...