Florian Kienle, Pius Dolzer
Rz. 40
Die Kernfrage besteht also darin, wie die Anwendbarkeit gläubigerschützender inländischer Rechtsinstitute auf die generell ihrem Gründungsrecht unterstehenden Scheinauslandsgesellschaften kollisionsrechtlich erreicht werden kann und gegebenenfalls, ob eine derartige Berufung inländischen Schutzrechts vor der Niederlassungsfreiheit Bestand hat.
I. Insolvenzrechtliche Qualifikation
Rz. 41
Ein inländisches Rechtsinstitut kann unabhängig vom Gründungsrecht einer Auslandsgesellschaft zur Geltung gebracht werden, wenn die entsprechenden Vorschriften oder Regelungskomplexe a priori nicht dem Gesellschaftsstatut zugeordnet, sondern als nicht-gesellschaftsrechtlich eingestuft und dem Anwendungsbereich einer anderen, das inländische Recht berufenden Kollisionsnorm zugeordnet werden. Welche Kollisionsnormen für einen konkreten Sachverhalt maßgeblich sind, ist eine Frage der Qualifikation.
1. Begriff der Qualifikation
Rz. 42
Mit dem Begriff der Qualifikation wird der Vorgang umschrieben, mit dem ein Rechtsinstitut einer Kollisionsnorm zugeordnet wird. Kollisionsnormen umschreiben ihren Anwendungsbereich mit Systembegriffen, die regelmäßig dem jeweils zugehörigen materiellen Recht entlehnt und die grundsätzlich nach der lex fori auszulegen sind, ohne dabei aber zwingend denselben Bedeutungsgehalt aufweisen zu müssen. Entscheidend ist, ob das zuzuordnende Rechtsinstitut dem Verweisungsbegriff der Kollisionsnorm funktionell adäquat ist. Auf der primären, der Tatbestandsebene der Qualifikation, geht es damit um den sachlichen Anwendungsbereich einer Kollisionsnorm. Auf der Ebene der Rechtsfolgen geht es um die Frage, welche Teile des verwiesenen Rechts als Folge der Verweisung im Inland anwendbar sind.
Rz. 43
Während autonome nationale Kollisionsnormen nach der jeweiligen lex fori zu qualifizieren sind, sind im Rahmen von einheitsrechtlichen oder staatsvertraglichen Kollisionsnormen deren Zweck, Entstehungsgeschichte und die im Normsetzungsprozess herangezogenen einzelstaatlichen Bestimmungen zu berücksichtigen.
2. Insolvenzrechtliche Qualifikation von Schutzinstituten
Rz. 44
Im Hinblick auf verschiedene, prima facie gesellschaftsrechtliche Rechtsinstitute (siehe im Einzelnen Rdn 162 ff.), die eine inhaltliche Nähe zum Insolvenzrecht aufweisen, wird eine insolvenzrechtliche Qualifikation vorgeschlagen, um die betroffenen Rechtsfragen dadurch dem Insolvenzstatut anstelle des Gründungs- bzw. Herkunftsrechts zu überantworten. Betroffen sind nicht nur solche Rechtsinstitute, die die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens verlangen, sondern auch solche im Vorfeld einer Insolvenz. Die insolvenzrechtliche Qualifikation eines Haftungsinstituts hätte gem. Art. 3, 7 EuInsVO, §§ 3, 335 InsO kollisionsrechtlich zur Folge, dass das Recht desjenigen Staates ausschlaggebend wäre, in dem der Schuldner seine wesentlichen Aktivitäten entfaltet und am Rechtsverkehr teilnimmt.
Rz. 45
Diese Überlegungen, das deutsche Gläubigerschutzsystem auf dem Wege insolvenzrechtlicher Qualifikation zur Geltung zu verhelfen, wurzeln in der für das deutsche Recht charakteristischen engen Verzahnung von gesellschaftsrechtlichen Kapital- und Gläubigerschutzmechanismen mit dem insolvenzrechtlichen Instrumentarium, die ineinander greifend ein umfassendes Schutzsystem bilden. Verschiedene Rechtsinstitute liegen dabei gleichsam in der Schnittmenge beider Rechtsgebiete, indem sie – systematisch in gesellschaftsrechtlichem Gewande – ihrem materiellen Gehalt zu urteilen in hohem Maße insolvenzrechtlicher Natur sind und sich daher einer trennscharfen Zuordnung entziehen. Freilich hat der Gesetzgeber des MoMiG weite Teile des im Gesellschaftsrecht geregelten Gläubigerschutzes nunmehr in das Insolvenzrecht verschoben und auch die Rechtsprechung lässt Tendenzen einer Schutzverlagerung weg vom Gesellschaftsrecht hin zum niederlassungsneutralen, allgemeinen Verkehrsrecht erkennen.
Rz. 46
Das ineinander greifende Gläubigerschutzsystem aus Insolvenz- und Gesellschaftsrecht ist durch die Inspire Art-Entscheidung aus den Fugen geraten. In Anbetracht der mit dem Einsatz von ausländischen Kapitalgesellschaften einhergehenden Missbrauchsgefahren werden verstärkt vordergründig gesellschaftsrechtliche Instrumentarien auf ihren etwaigen insolvenzrechtlichen Gehalt hin untersucht. Prominentestes Beispiel hierfür bildeten bis zu ihrer Verpflanzung nach § 15a InsO die in § 64 GmbHG enthaltenen Regelungen über die Insolvenzverschleppung. Das funktionale Äquivalent auf britischer Seite, die Haftung wegen wrongful trading, die in sec. 214 des englischen Insolvency Act 1986 verortet ist, hat auch hierzulande die Diskussion befruchtet, ob die Insolvenzverschleppung unabhängig von ihrem systematischen Standort nicht per Qualifikation dem Insolvenzstatut zuzuweisen ist, um sie dadurch als Ha...