Florian Kienle, Pius Dolzer
Rz. 84
Aufgrund des überaus weiten Schutzbereichs der Niederlassungsfreiheit und der hohen Rechtfertigungshürden für eine Beschränkung fragt sich, ob im Wege teleologischer Reduktion schon aus ihrem Schutzbereich Regelungen auszunehmen sind, die nicht den Marktzugang ausländischer Gesellschaften, sondern deren Verhalten im Markt nach erfolgtem Zutritt in gleicher Weise wie das anderer Marktteilnehmer betreffen (sog. Tätigkeitsausübungsregeln). In der Rechtssache Keck hat der EuGH entschieden, dass inländische Regelungen, die – in Abgrenzung zu Produkteigenschaften – lediglich Modalitäten des Verkaufs von Gütern im Inland betreffen, sich dann nicht als Einfuhrbeschränkung i.S.v. Art. 34 AEUV qualifizieren, wenn sie für alle betroffenen Wirtschaftsteilnehmer im Inland gelten und den Absatz inländischer Erzeugnisse und der Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten rechtlich wie tatsächlich in der gleichen Weise berühren. Derartige Regelungen seien nicht geeignet, den Marktzugang zu versperren oder stärker als für inländische Erzeugnisse zu behindern.
Rz. 85
Die Keck-Rechtsprechung lässt sich dahingehend verallgemeinern, als allgemein gültige Vorschriften des inländischen Rechts, die den Marktzutritt nicht wesentlich erschweren, im Sinne einer de minimis-Ausnahme nicht dem rigiden Rechtfertigungszwang anhand zwingender Gründe des Allgemeininteresses unterliegen. Aufgrund der Konvergenz der Grundfreiheiten ist diese Rechtsprechung auch auf die Niederlassungsfreiheit zu übertragen. Hierfür spricht in der Sache, dass tätigkeitsbezogene Vorschriften erst eingreifen, wenn die Gesellschaft anhand ihrer gleichwohl getroffenen Standortentscheidung dokumentiert hat, dass diese rechtlichen Rahmenbedingungen ihre Niederlassung im Inland nicht behindern oder sie weniger attraktiv gemacht haben.
Schon in der Rechtssache Semerano hat der EuGH ausgeführt, dass die beschränkende Wirkung einer Regelung, die für alle Wirtschaftsteilnehmer im Inland gilt und die keine Bedingungen für die Niederlassung der betreffenden Unternehmen bezweckt, zu ungewiss und mittelbar ist, um sich als Behinderung der Niederlassungsfreiheit zu qualifizieren. Maßgebliche Gesichtspunkte für das Verdikt des EuGH waren damit die nicht-diskriminierende Geltung, die niederlassungsneutrale Zwecksetzung sowie die geringe Intensität der Beeinträchtigung. Für bereits marktzugehörige Auslandsgesellschaften gilt damit primär das allgemeine Diskriminierungsverbot des Art. 18 AEUV, während eine strenge Rechtfertigungsprüfung nur bei Anforderungen an die Struktur der Gesellschaft vor ihrem Marktzutritt erforderlich ist. Bestätigung fand eine Übertragung der Keck-Grundsätze mit dem Kornhaas-Urteil des EuGH vom 15.10.2015. Hierin lehnte der EuGH eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit durch § 64 Abs. 2 S. 1 GmbHG a.F. ab. Die dort vorgesehene Haftungsregelung betreffe weder die Gründung einer Gesellschaft noch ihre spätere Niederlassung in einem anderen Mitgliedsstaat, sondern finde nur nach Gründung der Gesellschaft im Rahmen ihrer Tätigkeit Anwendung. Die Niederlassungsfreiheit stehe einer solchen Regelung nicht entgegen.
Rz. 86
Im Ergebnis bedarf damit nur die Anwendung solcher inländischer Regelungen einer strikten Rechtfertigung vor der Niederlassungsfreiheit, die den Marktzugang europäischer Auslandsgesellschaften, d.h. deren Niederlassung, entweder wesentlich beeinträchtigen, in ihrer Zwecksetzung einen Niederlassungsbezug aufweisen oder inländische Gesellschaften nicht in gleicher Weise betreffen wie ausländische, diese mithin (versteckt) diskriminieren. Eine solche Eigenschaft haftet im Regelfall solchen Regelungen nicht an, die tätigkeitsbezogen sind, einen Bestandteil des allgemeinen Verkehrsrechts bilden oder situativ anknüpfende Tatbestände beinhalten; den Gegensatz hierzu bilden Regelungen mit korporativem Charakter, d.h. die entweder die Organisations-, Leitungs- oder Haftungsstruktur einer Gesellschaft betreffen. Beispiel einer derartigen, zwar gesellschaftsrechtlich zu qualifizierenden, aber nur tätigkeitsbezogenen Regelung sind die Rechnungslegungsvorschriften; diese können mithin im Wege einer Sonderanknüpfung aus dem gesellschaftsrechtlichen Statut des Gründungsstaates herausgelöst und nach Maßgabe des Verwaltungssitzes angeknüpft werden. Gleiches gilt freilich für noch weniger marktzutrittsrelevante Marktrückzugsregelungen.