Florian Kienle, Pius Dolzer
Rz. 162
Im Folgenden werden einzelne, besonders bedeutsame Tatbestände des deutschen Rechts nach Maßgabe der in Abschnitt D. (siehe Rdn 40 ff.) dargestellten Kriterien auf ihren insolvenzrechtlichen Gehalt untersucht. Im Falle einer gesellschaftsrechtlichen Qualifikation wird zudem geprüft, ob eine Anknüpfung an den tatsächlichen Verwaltungssitz nach den Kriterien des EuGH zulässig ist.
I. Kapitalerhaltungsregeln
1. Überblick
Rz. 163
Dem deutschen Kapitalgesellschaftsrecht liegt das System des garantierten Festkapitals zugrunde, das mehrere Funktionen in sich vereint. So bildet das Grund- oder Stammkapital den Betriebsfonds einer Gesellschaft und repräsentiert aus Sicht der Gesellschaftsgläubiger die garantierte Haftungsmasse; zugleich soll das zu erbringende Mindestkapital eine gewisse Seriositätsschwelle bilden. Um die Verwirklichung dieser Funktionen zu gewährleisten, wird das Festkapitalprinzip durch besondere Regelungen der Kapitalaufbringung, insbesondere den Grundsatz der realen Kapitalaufbringung, und durch Regelungen der Kapitalerhaltung abgesichert, deren Verwirklichung im Falle der GmbH schon zum Zeitpunkt der Anmeldung der Gesellschaft zum Handelsregister einsetzt. § 7 Abs. 2 GmbHG bestimmt, dass die Gesellschaft erst dann zum Handelsregister angemeldet werden darf, wenn auf jede Bareinlage mindestens ein Viertel und insgesamt mindestens die Hälfte des Stammkapitals geleistet wurde; ab diesem Zeitpunkt greifen auch die Regelungen der Kapitalerhaltung. Die Regeln über die Kapitalaufbringung und -erhaltung sind das notwendige Gegenstück zu der in § 13 Abs. 2 GmbHG niedergelegten Beschränkung der Haftung auf das Gesellschaftsvermögen und bilden ein für das Gesellschaftsrecht essentielles System des abstrakt-präventiven Gläubigerschutzes. Freilich hat das deutsche Kapitalsystem mit der Einführung einer ohne Mindestkapital gründbaren haftungsbeschränkten Unternehmergesellschaft in § 5a GmbHG durch das MoMiG eine bedeutsame Aufweichung erfahren.
2. Kapitalaufbringungsregeln
Rz. 164
Der Grundsatz der realen Kapitalaufbringung wird im Wesentlichen durch die Vorschriften der §§ 5, 7 Abs. 3, 8 Abs. 2, 9–9c, 19 GmbHG umgesetzt. Diese sind, anders als die Kapitalerhaltungsregeln, für die vorliegende Untersuchung nur von untergeordneter Bedeutung, da sie, ebenso wie die Verlustdeckungs- und die Vorbelastungshaftung (auch "Unterbilanzhaftung"), dazu dienen, zu Beginn der Existenz der Gesellschaft die tatsächliche Verfügbarkeit des satzungsmäßig zugesagten Stammkapitals abzusichern. Als originärer Bestandteil des Gründungsrechts können die Vorschriften zur Kapitalaufbringung auf Auslandsgesellschaften, die ihrem Gründungsstatut unterstehen, nicht angewendet werden.
3. Kapitalerhaltungsregeln
Rz. 165
Von Interesse sind hier aber die Regelungen über die Kapitalerhaltung, die im Interesse der Gläubiger abstrakt präventiv den Abzug solcher Gesellschaftsmittel, die zur Erhaltung des Stammkapitals erforderlich sind, durch die Gesellschafter verhindern sollen und damit bereits im Vorfeld der Insolvenz der Absicherung der Gläubigerbefriedigung dienen. Die Regelungen hierüber wurden im Zuge der GmbH-Reform durch das MoMiG bedeutend entschärft. § 30 Abs. 1 GmbHG bestimmt, dass – vorbehaltlich eines Beherrschungs- oder Gewinnabführungsvertrags oder eines vollwertigen Rückzahlungsanspruchs (sog. bilanzielle Betrachtungsweise, relevant etwa bei cash pool) – das zur Erhaltung des Stammkapitals erforderliche Vermögen der Gesellschaft nicht an die Gesellschafter ausgezahlt werden darf. Nach § 31 Abs. 1 GmbHG hat der Empfänger einer Zahlung, die diesem Verbot zuwider geleistet wurde, diese der Gesellschaft zu erstatten. Ist diese Erstattung nicht zu erlangen, so statuiert § 31 Abs. 3 GmbHG eine Ausfallhaftung der übrigen Gesellschafter. Die Regelungen sind mithin einschlägig bei Sachverhalten, in denen eine Schmälerung des Gesellschaftskapitals durch einen konkreten Vorgang eintritt. Gemäß der Lebensweisheit "Wo kein Kläger, da kein Richter", werden sie häufig erst im Falle der Krise oder Insolvenz der Gesellschaft virulent.
Rz. 166
Aufgrund der Bezogenheit auf das Stammkapital der Gesellschaft erscheinen die Kapitalerhaltungsregeln als genuines Gesellschaftsrecht und als Spezifika der deutschen GmbH, die tatbestandlich losgelöst sind von einer drohenden Insolvenz, einer bestehenden Unterbilanz oder auch nur eines konkreten Kapitalbedarfs, sondern vielmehr das Stammkapital einer Rückzahlung abstrakt und absolut entziehen. Ferner ist der dogmatische Zusammenhang mit der Kapitalaufbringung äußerst eng, das Kapitalerhaltungsrecht ist mit dem Verbot der Einlagenrückgewähr verknüpft. Es l...