Florian Kienle, Pius Dolzer
Rz. 209
Im internationalen Unternehmensrecht gibt es zahlreiche Schnittstellen zwischen unterschiedlichen Rechtsgebieten. Vorliegend wurde die Schnittstelle des Gesellschafts- und des Insolvenzrechts näher beleuchtet. Dabei hat sich gezeigt, dass insbesondere der verbreitete Einsatz sog. Scheinauslandsgesellschaften der Diskussion neue Impulse gegeben hat. Ein Schwerpunkt des juristischen Diskurses liegt darin, wie es rechtstechnisch und in Einklang mit der europäischen Niederlassungsfreiheit möglich ist, inländische Rechtsfiguren auf derartige Gesellschaften anzuwenden. Die Niederlassungsfreiheit gewährt Unternehmern grundsätzlich eine Rechtsformwahlfreiheit und eine entsprechende Freizügigkeit in dem Sinne, als sie aus den mitgliedstaatlichen Rechtsformen frei wählen und den Sitz der Gesellschaft dort begründen können, wo es ihnen beliebt, ohne hierin durch das Recht am Ort dieses Sitzes beeinträchtigt zu werden. Die dadurch bedingte grundsätzliche Maßgeblichkeit des Gründungsrechts im Hinblick auf europäische Auslandsgesellschaften ist in ihrer Reichweite weitgehend deckungsgleich mit dem sog. Gesellschaftsstatut. Damit bestimmen sich insbesondere die Finanzverfassung und die persönliche Haftung von Organen und Gesellschaftern grundsätzlich nach dem Gründungsrecht. Die Niederlassungsfreiheit steht dagegen der Anwendung des inländischen sog. allgemeinen Verkehrsrechts, das unterschiedslos für sämtliche Teilnehmer des inländischen Verkehrs gilt, nicht entgegen sowie andererseits auch das Insolvenzrecht aufgrund seines europäischen Ursprungs im Lichte der Niederlassungsfreiheit unbedenklich erscheint. Einen höheren Begründungsaufwand erfordert dagegen die Anwendung solcher inländischer Rechtsinstitute auf Scheinauslandsgesellschaften, die dem inländischen Gesellschaftsrecht zugehören, da die Niederlassungsfreiheit insoweit gerade die Anwendung des Gründungs- und nicht des Sitzrechts gebietet.
Rz. 210
Eine nähere Betrachtung einzelner Rechtsinstitute des inländischen Rechts, die auf einen ersten Blick dem Gesellschaftsrecht zugehören, offenbart indes deren insolvenzrechtlichen Charakter, was wiederum ihre Anwendung auf Auslandsgesellschaften ermöglicht. Freilich ist insoweit im Hinblick auf jede einzelne Rechtsfigur die konkrete Zuordnung heftig umstritten. Der Gesetzgeber hat sich im Zuge der Reform des Gesellschaftsrechts durch das MoMiG und jüngst mit SanInsFoG und StaRUG einer Verlagerung von Gläubigerschutzinstrumenten in das Insolvenzrecht verschrieben, und auch der BGH lässt Tendenzen einer Verlagerung vom Gesellschafts- in das niederlassungsneutrale allgemeine Verkehrsrecht erkennen. Insbesondere die in der Praxis relevanten Materien der Insolvenzverschleppungshaftung, der Gesellschafterdarlehen und der Existenzvernichtungshaftung dürften als Teil des inländischen Insolvenzrechts anzusehen sein, womit sich auf der Grundlage der EuInsVO auch gegenüber Scheinauslandsgesellschaften ein wirksamer Gläubigerschutz ergibt.
Rz. 211
Das Internationale Insolvenzrecht ist in Form der EuInsVO im Wesentlichen vergemeinschaftet und führt regelmäßig zur Anwendbarkeit des Insolvenzrechts am tatsächlichen Sitz des Schuldners und ermöglicht damit die Anwendung der insolvenzrechtlichen Haftungsinstitute auf Auslandsgesellschaften im Gläubigerinteresse. Im Rahmen der EuInsVO bestehen zahlreiche Berührungspunkte zum Gesellschaftsrecht, insbesondere was die Eröffnungszuständigkeit anbelangt. Hier ist die Diskussion insbesondere im Hinblick auf Konzernsachverhalte bereits weit gediehen. Auch die Problematik der professionellen Firmenbestattung im Ausland gewinnt im Rahmen der EuInsVO zunehmend an Bedeutung.
Rz. 212
Führt die Qualifikation eines inländischen Haftungstatbestandes dagegen zu einer gesellschaftsrechtlichen Einordnung, so kann eine Anwendung nur über eine kollisionsrechtliche Sonderanknüpfung an das Sitzrecht erfolgen, die unter dem Vorbehalt der Rechtfertigung vor der Niederlassungsfreiheit anhand zwingender Gründe des Allgemeininteresses steht, sofern sie nicht lediglich das Verhalten nach erfolgtem Zuzug oder den Marktaustritt, sondern den Marktzutritt betrifft. Eine derartige Rechtfertigungsprüfung bildet eine hohe Hürde, ist aber angesichts eines schwerwiegenden Schutzbedürfnisses inländischer Gläubiger nicht unüberwindbar.
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