Florian Kienle, Pius Dolzer
Rz. 100
Nach Art. 1 Abs. 1 EuInsVO a.F. galt die Verordnung in sachlicher Hinsicht für Gesamtverfahren, die die Insolvenz des Schuldners voraussetzen und den vollständigen oder teilweisen Vermögensbeschlag gegen den Schuldner sowie die Bestellung eines Verwalters zur Folge haben. Die Reformierung des Anwendungsbereichs war jedoch wesentliches Anliegen und Ziel der Neufassung 2015. Gemäß des erweiterten Art. 1 Abs. 1 EuInsVO n.F. gilt die Verordnung nunmehr "für öffentliche Gesamtverfahren einschließlich vorläufiger Verfahren, die auf der Grundlage gesetzlicher Regelungen zur Insolvenz stattfinden und in denen zu Zwecken der Rettung, Schuldenanpassung, Reorganisation oder Liquidation a) dem Schuldner die Verfügungsgewalt über sein Vermögen ganz oder teilweise entzogen und ein Verwalter bestellt wird, b) das Vermögen und die Geschäfte des Schuldners der Kontrolle oder Aufsicht durch ein Gericht unterstellt werden oder c) die vorübergehende Aussetzung von Einzelvollstreckungsverfahren von einem Gericht oder kraft Gesetzes gewährt wird, um Verhandlungen zwischen dem Schuldner und seinen Gläubigern zu ermöglichen, sofern das Verfahren, in dem die Aussetzung gewährt wird, geeignete Maßnahmen zum Schutz der Gesamtheit der Gläubiger vorsieht und in dem Fall, dass keine Einigung erzielt wird, einem der in den Buchstaben a oder b genannten Verfahren vorgeschaltet ist."
Rz. 101
Als wesentliche Änderungen sind damit etwa die Aufnahme von vorläufigen Verfahren sowie solcher Verfahren, die nur eine vorübergehende Aussetzung von Einzelvollstreckungsverfahren gewähren (lit. c) anzusehen. Auch bedarf es nicht mehr zwingend der Bestellung eines Verwalters, erfasst sind nach lit. b auch Verfahren unter Kontrolle oder Aufsicht durch ein Gericht. Ferner lässt Art. 1 Abs. 1 UAbs. 2 EuInsVO schon die bloße Wahrscheinlichkeit der Insolvenz ausreichen. Stets muss es sich aber um ein öffentliches Gesamtverfahren handeln. Alle hierdurch in Bezug genommenen Verfahren sind in Anhang A aufgeführt, Art. 1 Abs. 1 UAbs. 3 EuInsVO. Insoweit ist die Verordnung (EU) 2017/353 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15.2.2017 zur Ersetzung der Anhänge A und B der EuInsVO zu berücksichtigen. Für Deutschland sind in Anhang A das Konkursverfahren, das gerichtliche Vergleichsverfahren, das Gesamtvollstreckungs- und das Insolvenzverfahren genannt, für Frankreich u.a. das die Insolvenz des Schuldners nicht voraussetzende Sauvgarde-Verfahren. Insgesamt handelt es sich bei den in Anhang A aufgeführten Verfahren um eine abschließende Benennung (numerus clausus); nicht genannte nationale Verfahren unterfallen dem Anwendungsbereich nicht (ErwG 9). Hierdurch wird auf der einen Seite Rechtssicherheit gewährleistet, auf der anderen Seite wirkt dies Enumerationsprinzip aufgrund des unflexiblen und langwierigen Verfahrens zur Aufnahme in Anhang A als "Veränderungssperre" mit "Versteinerungstendenz". Auch besteht mit Blick auf einmal aufgenommene Verfahren gewisser Raum für Missbrauch.
Rz. 102
In persönlicher Hinsicht werden sowohl natürliche als auch juristische Personen als Schuldner erfasst, unabhängig davon, ob es sich um einen Kaufmann oder eine Privatperson handelt (ErwG 9). Die Ausnahmen vom persönlichen Anwendungsbereich mit Blick auf Versicherungsunternehmen, Kreditinstitute, Wertpapierfirmen und Organismen für gemeinsame Anlagen in Art. 1 Abs. 2 EuInsVO bleiben unverändert bestehen. In zeitlicher Hinsicht gilt die EuInsVO gemäß Art. 84 EuInsVO für alle Insolvenzverfahren, die nach dem 26.6.2017 eröffnet worden sind. Für Altfälle vor diesem Datum bleibt es bei den Regelungen der EuInsVO 2000. Nach Vollzug des Brexit ist die EuInsVO im Vereinigten Königreich nicht mehr anzuwenden.
1. Hauptinsolvenzverfahren
Rz. 103
Art. 3 Abs. 1 EuInsVO regelt die Zuständigkeit für die Eröffnung des Hauptinsolvenzverfahrens. Die Zuständigkeit für die Durchführung eines Hauptverfahrens erstreckt sich auf sämtliche Nebenentscheidungen im Rahmen dieses Verfahrens sowie auf sämtliche sonstigen Maßnahmen, die nach dem Recht des Eröffnungsstaates Bestandteil des Insolvenzverfahrens sind. Auch gerichtliche Sicherungsmaßnahmen im Vorfeld der Insolvenzeröffnung unterfallen dem gemeinschaftsrechtlichen Begriff des Insolvenzverfahrens, Art. 32 Abs. 1 UAbs. 3, 52 EuInsVO. Ein mit Priorität ausgestattetes Hauptverfahren bzw. eine anzuerkennende Eröffnungsentscheidung lag schon nach Maßgabe der EuInsVO a.F. bereits in der Bestellung eines "starken" vorläufigen Insolvenzverwalters. Unklar war aber geblieben, was bei einem "schwachen" vorläufigen Insolvenzverwalter gelten sollte. Mit Neufassung der EuInsVO ist insoweit Klarheit geschaffen und unterschiedslos sowohl die Bestellung eines starken als auch eines schwachen vorläufigen Insolvenzverwalter als Eröffnungsentscheidung anzusehen.