Florian Kienle, Pius Dolzer
Rz. 54
Ein geringeres Konfliktpotential im Hinblick auf die Niederlassungsfreiheit weisen grundsätzlich auch solche Regelungen auf, die Bestandteil des sog. allgemeinen Verkehrsrechts sind. Dabei handelt es sich um Rechtsvorschriften, die unterschiedslos auf natürliche und juristische Personen, auf In- und Ausländer anwendbar sind, wie die allgemeinen Haftungstatbestände des Deliktsrechts, etwa §§ 823 Abs. 1 und 826 BGB, sowie im vertraglichen Bereich die Haftung aus Verschulden bei Vertragsverhandlungen (culpa in contrahendo) aus § 311 Abs. 2, 3 BGB. Teilweise wird hierzu auch das Insolvenzrecht gerechnet. Der BGH hat auch die Rechtsscheinshaftung wegen Weglassens des (ausländischen) Firmenzusatzes hierher gerechnet (siehe auch Rdn 58). Aufgrund ihrer unterschiedslosen Anwendbarkeit verhalten sich derartige Haftungstatbestände zur Niederlassungsfreiheit neutral; ihre Geltung bedarf daher mangels Einschränkung dieser Grundfreiheit auch keiner gesonderten Rechtfertigung. Sie kommen daher über die jeweils einschlägigen Kollisionsnormen, z.B. Art. 3 ff. Rom I-Verordnung, Art. 4 ff. Rom II-Verordnung bzw. Art. 27 ff., 38 ff. EGBGB, zur Anwendung; deren europäische Provenienz ist gleichermaßen wie im Anwendungsbereich der EuInsVO ein Indiz für eine niederlassungsneutrale Rechtsanwendung.
Rz. 55
Problematisch erscheinen demgegenüber solche Haftungstatbestände, die zwar delikts- oder vertragsrechtlich eingekleidet sind, sich aber aufgrund ihres spezifisch gesellschaftsrechtlichen Gehalts als Beschränkung der Niederlassungsfreiheit erweisen. Hierzu rechnete etwa bislang insbesondere die – auf den ersten Blick – deliktische Insolvenzverschleppungshaftung gem. § 823 Abs. 2 BGB, § 64 Abs. 1 GmbHG a.F. (heute § 15a InsO) (siehe ausführlich Rdn 174 ff.). Da der Haftungstatbestand inhaltlich im Wesentlichen durch das in Bezug genommene Schutzgesetz, mithin § 64 Abs. 1 GmbHG a.F., ausgestaltet und geprägt wird, kann es für die kollisionsrechtliche Qualifikation der Haftung nur auf den Charakter des Schutzgesetzes ankommen. Sanktioniert wird nicht die Verletzung allgemeiner Verkehrspflichten, sondern die Verletzung spezifisch gesellschaftsbezogener Verhaltenspflichten, die den Gesellschaftern oder Geschäftsführern gerade in dieser Eigenschaft obliegen. Eine Anwendung derartiger Haftungstatbestände musste sich daher – vorbehaltlich einer insolvenzrechtlichen Qualifikation – an der Niederlassungsfreiheit messen lassen. Dies war mitunter Anlass für den Gesetzgeber, den Insolvenzverschleppungstatbestand in das "niederlassungsfeste" Insolvenzrecht, namentlich § 15a InsO, zu verschieben; zwar gilt auch hier, dass die Haftung aus nunmehr § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 15a Abs. 1 InsO keine deliktsrechtliche, sondern eine insolvenzrechtliche ist, dies ist aber in Bezug auf die Niederlassungsfreiheit im Hinblick auf die EuInsVO deutlich weniger konfliktträchtig als eine gesellschaftsrechtliche Verankerung. Dennoch muss allgemein festgehalten werden, dass es nicht auf die rechtstechnische Einkleidung einer Haftungsnorm, sondern vielmehr auf ihren funktionellen Gehalt ankommt (siehe Rdn 42 ff., 48). Dies gilt in gleicher Weise für die Haftung aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit einem ausländischen, d.h. dem Gründungsrecht entstammenden Schutzgesetz; anders als die blanke Anwendung von Normen des Gründungsrechts verhält sich die zusätzliche Anordnung einer Haftungsfolge durch das Recht des Zuzugsstaates europarechtlich nicht mehr neutral.
Rz. 56
Noch eindeutiger ist der Befund im Hinblick auf die Tatbestände der Durchgriffshaftung wegen Vermögensvermischung und materieller Unterkapitalisierung, die zwar in die Nähe einer Haftung wegen vorsätzlich sittenwidriger Schädigung i.S.v. § 826 BGB rücken, aber hinsichtlich des subjektiven Tatbestandes geringere Anforderungen aufstellen und damit eine vom allgemeinen Verkehrsrecht gesonderte Haftungskategorie für bestimmte Personengruppen bilden. Damit bedarf die Anwendung der Haftungsfiguren der Insolvenzverschleppungshaftung und des Haftungsdurchgriffs – vorbehaltlich einer Zuordnung zum Insolvenzstatut – einer gesonderten Rechtfertigung. Hervorzuheben ist jedoch, dass der Durchgriffstatbestand des existenzvernichtenden Eingriffs zwar grundsätzlich gleichermaßen eine spezifisch gesellschaftsrechtliche Haftungsfigur ist und auch lange Zeit spezifisch gesellschaftsrechtlich fundiert wurde – abgeleitet aus dem früheren Haftungskonstrukt des qualifiziert-faktischen Konzerns. Ebenso wie im Falle der Insolvenzverschleppungshaftung ist aber hier zwar nicht der Gesetzgeber, jedoch der BGH darum bemüht, die Haftungsfigur aus dem niederlassungskritischen Gesellschaftsrecht in das neutralere allgemeine Verkehrsrecht zu verschieben. Namentlich hat der BGH in seiner Trihotel-Entscheidung die Haftung dogmatisch in § 826 BGB verankert und ist damit von dem eigenständigen gesellschaftsrechtlichen Haftungstatbestand abgerückt.
Rz. 57
Fraglich ist, wie es sich mit e...