Florian Kienle, Pius Dolzer
Rz. 31
Zahlreiche ausländische Staaten stellen keine oder nur geringe Anforderungen an die Kapitalausstattung ihrer Gesellschaften, beispielsweise England, Irland und Frankreich. So verlangt etwa der englische Companies Act 2006 keine Einzahlung eines bestimmten Mindesthaftkapitals bei Gründung einer private limited. Anders als bei Aktiengesellschaften bedingt auch die europäische Normgebung kein Mindestkapital bei Gesellschaften mit beschränkter Haftung. Die Öffnung des deutschen Rechtsraums für Auslandsgesellschaften ohne zwingendes Mindestkapital stößt zwar einerseits auf Bedenken im Hinblick auf den Schutz inländischer Gläubiger, die nicht mehr auf das Vorhandensein eines bestimmten Haftungsfonds vertrauen können und mit Geschäftspartnern konfrontiert werden, die nicht die Seriositätsschwelle des GmbHG genommen haben. Andererseits aber hat der Gesetzgeber des MoMiG mit der UG (haftungsbeschränkt) eine Gründungsvariante ohne zwingende Kapitalausstattung zur Verfügung gestellt und damit selbst sein zentrales Konzept eines kapitalbasierten Gläubigerschutzes aufgeweicht.
Rz. 32
Skeptisch stimmt viele der verbreitete Einsatz sog. pseudo foreign companies – zu Deutsch Scheinauslandsgesellschaften, d.h. solcher Gesellschaften, die abgesehen von Gründung und Rechtsform keinen Bezug zu ihrem Gründungsstaat aufweisen. Deren Einsatz beruht häufig gerade auf der Bestrebung, das Haftungs- und Schutzsystem des deutschen Rechts auszuhebeln oder um den mit der Gründung einer deutschen GmbH verbundenen Aufwand zu reduzieren. Sie werden spöttisch auch als "Billig-GmbHs" bezeichnet, wobei dies freilich nach Einführung der UG (haftungsbeschränkt) auch für diese angeführt werden kann. Der breiten Öffentlichkeit bekannt ist ferner die dysphemistische Bezeichnung als "Briefkastengesellschaft", bei der regelmäßig der Verdacht des Illegitimen zumindest mitschwingt und durch verschiedene Skandale (Panama Papers) weiter befeuert wird. Im Nachgang zur Überseering-Entscheidung des EuGH soll die Zahl der Gründungen von private limited companies englischer Provenienz um monatlich 3.000 gestiegen sein und sich eine auf limited-Gründungen spezialisierte Branche etabliert haben. Die Attraktivität der limited wurde durch die Einsatzmöglichkeit als Komplementärin im Rahmen einer "Ausländischen Kapitalgesellschaft & Co. KG" noch gesteigert (sog. grenzüberschreitende Typenvermischung). In der Praxis ist jedoch seit langem ein kontinuierlicher Rückgang der im Inland aktiven Scheinauslandsgesellschaften zu konstatieren, was nicht nur an der Effektivierung inländischer Schutzmechanismen, der Einführung der UG (haftungsbeschränkt) und des vereinfachten Gründungsverfahrens mithilfe des Musterprotokolls i.S.v. § 2 Abs. 1a GmbHG durch das MoMiG, sondern auch an den erheblichen Seriositätsvorbehalten liegen dürfte, denen derartige Unternehmensformen begegnen. Ursprüngliche Kostenersparnisse bei der Gründung werden durch höhere laufende Kosten der ausländischen Rechtsberatung bzw. rechtlichen Begleitung relativiert. Ferner dürfte den Strafverfolgungsbehörden ein gewisser Anteil hieran zukommen. Nicht zuletzt führt freilich auch der Brexit zu einem deutlichen Rückgang der Scheinauslandsgesellschaften englischer Prägung.
Rz. 33
Ein Schutzdefizit kann sich ferner – wie schon eingangs skizziert (siehe Rdn 4) – aus der kollisionsrechtlichen Verweisungsmethode ergeben. Sieht etwa der Gründungsstaat eine Regelung im Insolvenzrecht vor, kann andererseits der Staat, in dessen Gebiet sich der tatsächliche Verwaltungssitz befindet, eine funktional vergleichbare Regelung im Rahmen seines Gesellschaftsrechts vorhalten. Wird für das Gesellschaftsrecht auf den Gründungsstaat verwiesen, während das Insolvenzrecht dasjenige des Sitzstaates ist, findet im Ergebnis keine der beiden Regelungen Anwendung. Dies widerspricht der Konzeption beider Rechtsordnungen und wird daher als Normenmangel gekennzeichnet, da beide der beteiligten Rechtsordnungen eine funktional äquivalente Haftungsnorm vorhalten, von denen jedoch aufgrund der unterschiedlichen Qualifikation keine zur Anwendung gelangt.
Rz. 34
Ein Beispiel für einen Normenmangel bildete lange die Insolvenzverschleppungshaftung, die im englischen Recht von der insolvenzrechtlichen Figur des wrongful trading realisiert wird, in der deutschen Rechtsordnung aber bis zu seiner Transplantation durch das MoMiG in § 64 GmbHG a.F. verortet war und damit unter dem Dach des Gesellschaftsrechts firmierte. Auf eine englische limited mit Sitz in Deutschland fand kollisionsrechtlich keine der Regelungen Anwendung. Der auf Missbrauchsbekämpfung gesonnene Gesetzgeber des MoMiG hat die Insolvenzverschleppungshaftung jedoch rechtsformneutral ausgestaltet und in § 15a der gegenüber sämtlichen Gesellschaften mit inländischem Verwaltungssitz anwendbaren Insolvenzordnung untergebracht (siehe Rdn 174 ff.). Generell kann das Kollisionsrecht mit seiner nach Systembereichen untergliederten V...