Florian Kienle, Pius Dolzer
1. Überblick
Rz. 174
Die ausladensten Diskussionen drehten sich nach dem vermehrten Zuzug europäischer Auslandsgesellschaften als Folge der Judikatur des EuGH zur gesellschaftsrechtlichen Niederlassungsfreiheit um die Qualifikation der Pflicht des Geschäftsführers, bei Vorliegen eines Insolvenzgrundes die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Gesellschaft zu beantragen, sowie um die Qualifikation der sich an eine Verletzung der Antragspflicht knüpfenden Insolvenzverschleppungshaftung. Im deutschen Recht war die Antragspflicht bis zur Reform des Gesellschaftsrechts durch das MoMiG in den einzelnen gesellschaftsrechtlichen Gesetzen, etwa § 130a HGB, § 92 AktG und § 64 GmbHG, geregelt. Gerade aus dieser systematischen Stellung resultierten die Grabenkämpfe, die um die kollisionsrechtliche Einordnung der Antragspflicht bzw. der komplementären Verschleppungshaftung geführt wurden. Im Rahmen der Gesellschaftsrechtsreform durch das MoMiG wurden die Regelungen in dem rechtsformunabhängigen § 15a InsO zusammengeführt. Bereits eingegangen wurde auf die – insolvenzrechtliche – Frage der Antragsberechtigung (siehe Rdn 141 ff.).
2. Qualifikation von Antragspflicht und Insolvenzverschleppungshaftung
Rz. 175
Die kollisionsrechtliche Behandlung der ursprünglich in § 64 Abs. 1 GmbHG a.F. geregelten Pflicht zur Stellung eines Insolvenzantrags war vor der GmbH-Reform durch das MoMiG heftig umstritten. Die systematische Verankerung im Gesellschaftsrecht und die Eigenschaft der Antragspflicht als spezifische Pflicht der gesellschaftlichen Organe wurden hierbei für eine gesellschaftsrechtliche Qualifikation ins Feld geführt. Demgegenüber sprach sich die wohl herrschende Auffassung unter Rückgriff auf den Normzweck der Antragspflicht im Sinne der kollektiven Haftungsverwirklichung und der Marktbereinigung für eine insolvenzrechtliche Qualifikation aus. Während die Frage der Qualifikation unter dem Regime der gesellschaftsrechtlichen Sitztheorie deshalb ohne praktische Relevanz war, weil gegenüber Auslandsgesellschaften mit inländischem Sitz sowohl deutsches Gesellschafts- als auch deutsches Insolvenzrecht Anwendung fand, geriet dieses aus Gesellschafts- und Insolvenzrecht bestehende Haftungssystem infolge der EuGH-Rechtsprechung zur Niederlassungsfreiheit dadurch aus den Fugen, dass gegenüber europäischen Auslandsgesellschaften mit inländischem Verwaltungssitz das deutsche Gesellschaftsrecht nicht mehr zur Anwendung gebracht werden konnte (sofern ihr Gründungsstaat der Gründungstheorie folgte) – mit anderen Worten konnte gegenüber einer Auslandsgesellschaft die deutsche Insolvenzverschleppungshaftung nicht zur Anwendung gebracht werden, wenn sie gesellschaftsrechtlich zu qualifizieren war, wohingegen sie bei Zugehörigkeit zum Insolvenzstatut über die Anknüpfung an den tatsächlichen Interessenmittelpunkt im Rahmen der EuInsVO gegenüber Gesellschaften mit inländischem Interessenmittelpunkt zum Zuge kam. Die Kontroverse wurde durch den Reformgesetzgeber des MoMiG im Sinne einer insolvenzrechtlichen Qualifikation gelöst, indem die Antragspflicht aus den verschiedenen gesellschaftsrechtlichen Gesetzen nach § 15a InsO überführt wurde. Seitdem greift die Antragspflicht rechtsformunabhängig und gem. Art. 3, 7 EuInsVO, § 335 InsO gegenüber sämtlichen Gesellschaften mit Interessenmittelpunkt im Inland. Damit sind insbesondere die im Zusammenhang mit im Inland ansässigen Scheinauslandsgesellschaften bemängelten Schutzlücken geschlossen, die regelmäßig deshalb auftraten, weil deren Heimatrecht eine Antragspflicht in dem (nicht zur Anwendung berufenen) Insolvenzrecht vorhielt, während die im – auf europäische Auslandsgesellschaften (sofern der Gründungsstaat der Gründungstheorie anhing) unanwendbaren – deutschen Gesellschaftsrecht verankerte Antragspflicht ebenfalls nicht zum Zuge kam. Klarheit brachte zumindest mittelbar auch schon das Kornhaas-Urteil des EuGH, mit dem sich die insolvenzrechtliche Qualifikation des § 64 S. 1 GmbHG a.F. bekräftigt sah.
Rz. 176
Mit dieser Qualifikationsentscheidung zugunsten des Insolvenzrechts liegt der deutsche Gesetzgeber auf internationaler Linie. Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass mit der Überführung vom Gesellschafts- in das Insolvenzrecht auch die von der Wegzugsfreiheit des § 4a GmbHG gebrauch machenden deutschen Gesellschaften der deutschen Antragspflicht nicht mehr unterliegen. Freilich war dies im Falle der – zutreffenden – insolvenzrechtlichen Qualifikation des § 64 Abs. 1 GmbHG a.F. bereits vor der Reform durch das MoMiG der Fall – neu ist daran nur die früher nicht bestehende Freiheit des identitätswahrenden Wegzugs.
Rz. 177
Die in § 15a InsO selbst nicht unmittelbar angeordnete Insolvenzverschleppungshaftung beruht auf dessen Einordnung als Schutzgesetz i.S.v. § 823 Abs. 2 BGB. Bei der Schadensbemessung ist zwischen Altgläubigern, deren Forderung bereits vor Insolvenzreife entstanden ist, und N...