Florian Kienle, Pius Dolzer
1. Eröffnungszuständigkeit für Hauptverfahren
Rz. 113
Für die Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens sind gem. Art. 3 Abs. 1 EuInsVO die Gerichte des Mitgliedstaates zuständig, in dessen Hoheitsgebiet der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen (center of main interest – COMI) hat. Wie mittlerweile nicht mehr nur in ErwG 13 EuInsVO 2000 umschrieben, sondern in Art. 3 Abs. 1 UAbs. 1 S. 2 EuInsVO kodifiziert, ist Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen der Ort, an dem der Schuldner gewöhnlich der Verwaltung seiner Interessen nachgeht und der für Dritte feststellbar ist. Die EuInsVO erhebt damit das internationalprivatrechtliche Vertrauensinteresse zum Leitgedanken; das bei der Geschäftsanbahnung investierte Vertrauen in die Realisierung der zu der materiell-rechtlichen Haftungsordnung komplementären insolvenzrechtlichen Vermögenshaftung soll geschützt und der Geschäftspartner in die Lage versetzt werden, schon bei Aufnahme der Geschäftsbeziehung das Insolvenzrisiko zu kalkulieren. Vor diesem Hintergrund ist das sog. forum shopping durch Manipulation der Eröffnungszuständigkeit ein unliebsames Phänomen (siehe Rdn 130). Definitionsgemäß verfügt jeder Schuldner nur über einen einzigen Interessenmittelpunkt.
Rz. 114
Nur regelmäßig besteht damit ein Gleichlauf zwischen dem Interessenmittelpunkt des Schuldners und dem Anknüpfungskriterium des tatsächlichen Verwaltungssitzes im Sinne der gesellschaftsrechtlichen Sitztheorie. Letztere stellt darauf ab, wo die grundlegenden Entscheidungen der Unternehmensleitung effektiv in laufende Geschäftsführungsakte umgesetzt werden. Damit wird aber die Erkennbarkeit des Interessenmittelpunktes vernachlässigt, wenn, wie etwa im Falle der Zugehörigkeit zu einem zentral organisierten Konzern, die Geschäftsleitung von der werbenden Tätigkeit der Gesellschaft losgelöst ist. Dies spiegelt die letztlich inkongruenten Anknüpfungsbestrebungen des Internationalen Gesellschafts- und des Internationalen Insolvenzrechts wider; anders als das Insolvenzstatut ist das Gesellschaftsstatut neben den Außenbeziehungen auch auf die innere Verfassung der Gesellschaft und das Verhältnis ihrer Mitglieder untereinander bezogen.
Rz. 115
Im Divergenzfall ist mithin der Lokalisierung des Interessenmittelpunkts i.S.v. Art. 3 Abs. 1 EuInsVO an dem für Dritte erkennbaren Ort der Vorzug zu geben, wo sich der Hauptort der werbenden Geschäftstätigkeit der Gesellschaft befindet. Dieser ist anhand einer Gesamtschau von Faktoren zu ermitteln, die darauf abstellt, wo Geschäfte mit Dritten angebahnt, abgeschlossen und abgewickelt werden, wo der Einsatz von Sach- und Personalmitteln erfolgt und wo die Mehrzahl der Kundenbeziehungen lokalisiert ist. Hilfskriterien bilden ferner der Ort der Bankverbindung, die Belegenheit der Geschäftsbücher, der Ort der Personalverwaltung und der Rechnungsstellung. Im äußersten Fall kann auch die Belegenheit des vermieteten Grundvermögens den Ausschlag geben, wenn dort auch die Liegenschaftsverwaltung und die steuerliche Veranlagung erfolgen, sämtliche Korrespondenz auf Deutsch geführt wird und demgegenüber einzig der frei wählbare Aufenthaltsort des Geschäftsführers in einen anderen Staat weist. Zugegeben befindet sich danach zumindest regelmäßig der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen zugleich am Verwaltungssitz. Für Gesellschaften sind ferner die Vermutung des Art. 3 Abs. 1 UAbs. 2 EuInsVO zugunsten des Satzungssitzes sowie die Anforderungen an deren Widerlegung zu beachten (vgl. hierzu Rdn 124).
Rz. 116
Einige Aufmerksamkeit erhielt zum Jahreswechsel 2017/18 die Frage zur Bestimmung des COMI für die Eröffnung des Hauptverfahrens im Rahmen der Insolvenz der Fluggesellschaft NIKI. Thole spricht insoweit gar von "erhebliche[n] Turbulenzen" und einem "veritablen Justizkonflikt". Denn das LG Berlin hob auf Beschwerde den Beschluss des AG Charlottenburg, wonach der COMI der betroffenen NIKI-Gesellschaft mit Sitz in Wien aufgrund einer Gesamtschau in Berlin zu verorten sei, auf und betonte die Vermutungsregelung des Art. 3 EuInsVO. Hinreichende Anknüpfungspunkte seien nicht gegeben und daher die Vermutungsregelung des Art. 3 Abs. 1 S. 3 EuInsVO nicht widerlegt. In schneller Folge erklärte sodann das österreichische LG Korneuburg das Hauptinsolvenzverfahren in Österreich für eröffnet; dies wohlgemerkt obwohl ihm das Insolvenzgericht vorab mitgeteilt hatte, dass dieses von der Wirksamkeit der Anordnung vorläufiger Verwaltung aufgrund der noch anhängigen Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss des LG Berlins ausgehe. Letztlich führte das AG Charlottenburg das Verfahren als Sekundärverfahren fort.
Rz. 117
Stark auf die gesellschaftlichen Interna fokussiert ist der Begriff des mind of management englischer Provenienz, der den Interessenmittelpunkt im Sinne des Ortes umschreibt, an dem die wesentlichen Strategieentscheidungen gefällt und die Leitungsfunktionen innerhalb eines Unternehmens wahrgenommen werden. Hierauf ist sogleich im...