Florian Kienle, Pius Dolzer
Rz. 37
Teilweise wird in der Öffnung des nationalen Rechtsverkehrs für ausländische Rechtsformen eine besondere Chance durch mehr Wettbewerb der Rechtsordnungen erblickt und dafür plädiert, den Rechtsverkehr auf – die im Urteil des EuGH in Sachen Inspire Art in Bezug genommenen – Selbstschutzmechanismen oder aber auf die nach dem Gründungsstatut verfügbaren Schutzinstrumente zu verweisen. In diesem Sinne hat sich auch der deutsche Gesetzgeber mit der Schaffung der ohne festes Haftkapital zu gründenden haftungsbeschränkten Unternehmergesellschaft, und der Einführung des vereinfachten Verfahrens (Musterprotokoll) gem. § 2 Abs. 1a GmbHG dem Wettbewerb gestellt.
Rz. 38
Es überwiegen aber noch immer diejenigen Stimmen, die dem Schutzbedürfnis inländischer Gläubiger durch die komplementäre Anwendung inländischer Schutzvorschriften Rechnung zu tragen suchen. Für diese Stimmen lautet die Kardinalfrage, ob die Anwendung wesentlicher Teile des inländischen Gläubigerschutzrechts auf Scheinauslandsgesellschaften auch bei Zugrundelegung der nunmehr weitgehend maßgeblichen Gründungstheorie kollisionsrechtlich möglich ist und gegebenenfalls, ob sich die so herbeigeführte Geltung inländischen Rechts mit der in den Art. 49, 54 AEUV verankerten Niederlassungsfreiheit vereinbaren lässt. Als mögliches Korrektiv wird neben den allgemeinen inländischen Haftungstatbeständen und der Sonderanknüpfung bestimmter gesellschaftsrechtlicher Institute insbesondere das Insolvenzrecht erachtet, da mit der Abnahme der Schutzwirkung abstrakt-präventiver Gläubigerschutzregelungen das Bedürfnis steigt, die Interessen der Gläubiger im konkreten Krisenfall zu stärken. Sowohl Rechtsprechung als auch Gesetzgeber haben sich mittlerweile einer Verlagerung von Gläubigerschutzfiguren aus dem Gesellschaftsrecht in europarechtlich weniger bedenkliche Rechtsmaterien verschrieben.
Rz. 39
Das Internationale Insolvenzrecht beruft regelmäßig, wie die Art. 3 Abs. 1, 7 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 2015/848 des Europäischen Parlaments und des Rates über Insolvenzverfahren (EuInsVO) vom 20.5.2015 (vgl. Rdn 94 ff.) und die §§ 3, 335 InsO belegen, das Recht des Eröffnungsstaates als desjenigen Staates, in dem sich der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen des Schuldners befindet, zur Anwendung. Befindet sich der Interessenmittelpunkt einer Scheinauslandsgesellschaft aber per definitionem im Zuzugsstaat, so bildet dessen Recht das Insolvenzstatut. Während das Gesellschaftsstatut im Falle einer Scheinauslandsgesellschaft also regelmäßig ein ausländisches ist, ist Insolvenzstatut bei einer Verfahrenseröffnung in Deutschland deutsches Recht. Insolvenz- und Gesellschaftsstatut fallen mithin bei Scheinauslandsgesellschaften auseinander.