Florian Kienle, Pius Dolzer
1. Begriff der Sonderanknüpfung
Rz. 59
Ist nach Maßgabe der vorstehend dargelegten Grundsätze ein Rechtssatz als gesellschaftsrechtlich zu qualifizieren und damit grundsätzlich Bestandteil des einheitlichen Gesellschaftsstatuts, so kann das entsprechende inländische Schutzinstrument gegenüber einer dem Gründungsrecht unterstehenden Auslandsgesellschaft nur dennoch zur Anwendung gebracht werden, indem die Frage durch eine kollisionsrechtliche Sonderanknüpfung von dem einheitlichen Gesellschaftsstatut abgespalten und einer anderen, namentlich der Rechtsordnung des Zuzugsstaates, überantwortet wird (dépeçage).
Rz. 60
Eine derartige Abspaltung und Sonderanknüpfung dient grundsätzlich der Verwirklichung des internationalprivatrechtlichen Prinzips, dasjenige Recht auf einen Sachverhalt zur Anwendung zu bringen, zu dem dieser die engste Verbindung aufweist. Wenn sich die in der Grundanknüpfung typisiert zum Ausdruck kommende Berufung des sachnächsten Rechts in Bezug auf einzelne Aspekte eines Sachverhalts nicht bewahrheitet, sich die Regelanknüpfung mithin als zu grob erweist, ermöglicht es die Sonderanknüpfung, die einzelnen Aspekte demjenigen Recht zu unterstellen, zu dem sie die engste Verbindung aufweisen. Gespiegelt auf Gesellschaften wurde freilich vor den Judikaten des EuGH stets das Recht des tatsächlichen Verwaltungssitzes als sachnächstes Recht erachtet; es geht mithin weniger darum, diese Sachnähe nochmals herauszustreichen, als insbesondere in Haftungsfragen die besonders enge Verflechtung einer Gesellschaft mit ihrem Umgebungsrecht zu betonen, um so Argumente für eine Sonderanknüpfung an dieses Recht vor dem Hintergrund der Niederlassungsfreiheit zu gewinnen.
2. Rechtfertigung vor der Niederlassungsfreiheit
Rz. 61
Eine durch Sonderanknüpfung herbeigeführte Anwendung gesellschaftsrechtlicher Haftungsfiguren des Sitzrechts bewirkt eine inhaltliche Modifikation des ausländischen Gesellschaftsstatuts und stellt daher nach der Rechtsprechung des EuGH eine rechtfertigungsbedürftige Einschränkung der Niederlassungsfreiheit ex Art. 49, 54 AEUV dar. Daher kommt ihre Anwendung nur in Betracht, wenn eine darin liegende Beschränkung der Niederlassungsfreiheit entweder gem. Art. 52 AEUV, nach den Kriterien des EuGH, der sog. Gebhard- bzw. Centros-Formel, oder aber deshalb gerechtfertigt ist, weil eine Berufung auf die Niederlassungsfreiheit im konkreten Fall als missbräuchlich erscheint. Schließlich kann der Schutzbereich der Niederlassungsfreiheit bei bloß tätigkeitsbezogenen Beschränkungen teleologisch zu reduzieren sein.
a) Rechtfertigung gem. Art. 52 AEUV
Rz. 62
Gem. Art. 52 AEUV stehen die europäischen Grundfreiheiten der Anwendung solcher einzelstaatlicher Vorschriften nicht entgegen, die eine Sonderregelung für Ausländer vorsehen und aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind. Die Vorschrift betrifft damit offene Diskriminierungen durch Vorschriften, die im Sinne eines gemeinschaftsrechtlichen ordre public-Vorbehalts ausländerpolizeiliche Maßnahmen vorsehen. Im vorliegenden Kontext dürfte dieser Rechtfertigungsmöglichkeit kaum eine Bedeutung zukommen, da es regelmäßig weder um eine offene Diskriminierung von Auslandsgesellschaften geht, noch die genannten öffentlichen Schutzgüter durch deren Tätigkeit im Inland spezifisch betroffen sind. Deswegen ist auch die niederländische Regierung im Inspire Art-Verfahren mit ihrem Rekurs auf Art. 52 AEUV nicht durchgedrungen.
b) Rechtfertigung nach den Gebhard- bzw. Centros-Grundsätzen
Rz. 63
Eine generell-abstrakte Regelung, die zu einer Einschränkung der Niederlassungsfreiheit führt, kann nach ständiger Rechtsprechung des EuGH nur aufgrund zwingender Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein. Für die Rechtfertigungsprüfung ist der Kanon der sog. Gebhard-Formel maßgeblich, der insbesondere in der Rechtssache Centros auch für den Bereich der gesellschaftsrechtlichen Niederlassungsfreiheit herangezogen und in den Folgeentscheidungen jeweils nachgezeichnet wurde. Danach sind solche Maßnahmen vor der Niederlassungsfreiheit rechtfertigungsbedürftig, die die Ausübung der Grundfreiheiten behindern oder weniger attraktiv machen können. Eine Einschränkung ist gerechtfertigt, wenn sie (1) in nicht-diskriminierender Weise angewandt wird, (2) aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses, in (3) zur Erreichung des verfolgten Zieles geeigneter und schließlich (4) in nicht über das zur Zielerreichung erforderliche Maß hinausgehender Weise erfolgt.
Rz. 64
Wie bereits erwähnt (siehe Rdn 62), dürften die vorliegend interessierenden inländischen Gläubigerschutzinstrumente in keinem Falle eine offene Diskriminierung von Auslandsgesellschaften darstellen, da sie ihren Voraussetzungen nach unterschiedslos für sämtliche im Inland tätigen Gesellschaften anwendbar sind; denkbar ist dagegen, dass einzelne Regelungen faktisch Auslandsgesellschaften stärker belaste...