Florian Kienle, Pius Dolzer
Rz. 157
Einen Grundpfeiler der EuInsVO bildet die in Art. 19 Abs. 1 vorgesehene automatische Anerkennung der Eröffnung eines Insolvenzverfahrens durch das Gericht eines Mitgliedstaates in allen übrigen Mitgliedstaaten. Das Anerkennungsprinzip ist Ausdruck des gemeinschaftsrechtlichen Vertrauensgrundsatzes. Das Anerkennungsprinzip bedingt, dass auch eine objektiv unzutreffende Annahme der Eröffnungszuständigkeit, vorbehaltlich der ordre public-Widrigkeit (Art. 33 EuInsVO), anzuerkennen ist. Anderes folgt auch nicht aus der Formulierung in Art. 19 Abs. 1 EuInsVO, wonach "die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens durch ein nach Artikel 3 zuständiges Gericht" anerkannt wird. Aus Erwägungsgrund (65) der Verordnung wird deutlich, dass sich die Gründe für eine Nichtanerkennung auf ein notwendiges Maß beschränken und die Eröffnungsentscheidung des Erstgerichts im Rahmen der Anerkennung keiner Überprüfung unterzogen werden soll. Die Formulierung in Art. 19 Abs. 1 EuInsVO besagt vielmehr nur, dass Anerkennungsgegenstand die Entscheidung über die Eröffnung eines Hauptverfahrens ist.
Rz. 158
Aus der automatischen Anerkennung folgt ferner die automatische Wirkungserstreckung. Gemäß Art. 20 Abs. 1 EuInsVO entfaltet die Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens durch das Gericht eines Mitgliedstaates in jedem anderen Mitgliedstaat dieselben Wirkungen, die das Recht des Eröffnungsstaates der Verfahrenseröffnung beilegt, ohne dass es hierfür irgendwelcher Förmlichkeiten bedürfte. Diese automatische Anerkennung betrifft insbesondere die Beschlagnahmewirkung der Insolvenzeröffnung. Gleiches gilt gem. Art. 21 EuInsVO für die Befugnisse des Verwalters. Ihrem Ziel einer einheitlichen und gleichmäßigen kollektiven Gläubigerbefriedigung trägt die EuInsVO insbesondere durch die grundsätzliche Einbeziehung sämtlicher im Anwendungsbereich der Verordnung belegener Vermögensgegenstände des Schuldners in das Hauptinsolvenzverfahren Rechnung, während Nebenverfahren sich auf das im betreffenden Staat belegene Vermögen beschränken. Ein Sekundärverfahren suspendiert seinerseits in seinem Geltungsbereich die Beschlagswirkung des Hauptverfahrens (siehe Rdn 131). Die sachliche Reichweite der Beschlagswirkung wie auch die übrigen prozessualen und materiellen Wirkungen der Insolvenzeröffnung bemessen sich gem. Art. 7 Abs. 2 lit. b EuInsVO dagegen nach dem Recht des Verfahrensstaates.
Rz. 159
Das im Anerkennungsprinzip und in der Wirkungserstreckung verankerte Prinzip des gegenseitigen Vertrauens hat der deutsche Gesetzgeber positiviert. Hat das Gericht eines anderen Mitgliedstaates ein Hauptinsolvenzverfahren eröffnet, so ist nach Art. 102 § 3 Abs. 1 Satz 1 EGInsO während der Dauer der Anhängigkeit dieses Verfahrens ein bei einem inländischen Insolvenzgericht gestellter Antrag auf Eröffnung eines Hauptverfahrens ohne Überprüfung der Eröffnungszuständigkeit des eröffnenden Gerichts unzulässig. Wird ein Verfahren im Widerspruch dazu dennoch eröffnet, darf es nach Art. 102 § 3 Abs. 1 Satz 2 EGInsO nicht fortgesetzt und muss nach Art. 102 § 4 Abs. 1 Satz 1 EGInsO zugunsten des anderen Gerichts eingestellt werden (siehe auch Rdn 126 ff.).
Rz. 160
In praktischer Hinsicht wird die Wirkungserstreckung durch die in Art. 28 Abs. 1, 29 Abs. 1 EuInsVO vorgesehenen Maßnahmen des Insolvenzverwalters weiter effektuiert. Nach Art. 28 Abs. 1 EuInsVO ist auf Antrag des Verwalters der wesentliche Inhalt der Eröffnungsentscheidung sowie die Bestellung des Verwalters in jedem anderen Mitgliedstaat öffentlich bekannt zu machen. Nach Art. 29 Abs. 1 EuInsVO ist auf Antrag des Verwalters die Verfahrenseröffnung in das Grundbuch, das Handelsregister und alle sonstigen öffentlichen Register in den übrigen Mitgliedstaaten einzutragen. Der deutsche Gesetzgeber hat ferner in Art. 102 §§ 5, 6 EGInsO von den in Art. 28 Abs. 2 und 29 Abs. 2 EuInsVO vorgesehenen Ermächtigungen Gebrauch gemacht, ein obligatorisches Eintragungserfordernis zu statuieren. Die Verletzung der Publizierungspflichten kann Schadensersatzansprüche gegen den Insolvenzverwalter auslösen, sofern dadurch eine ansonsten vermeidbare Masseschmälerung eintritt.
Rz. 161
Art. 19 und 20 EuInsVO betreffen allerdings nur Anerkennung und Wirkungserstreckung der Eröffnungsentscheidung. Für alle übrigen Entscheidungen im Rahmen des Insolvenzverfahrens ist Art. 32 Abs. 1 EuInsVO sedes materiae. Hiernach werden auch Entscheidungen des Insolvenzgerichts außerhalb der Eröffnungsentscheidung automatisch anerkannt; vollstreckt werden solche Entscheidungen gem. Art. 32 Abs. 1 EuInsVO nach den Art. 39–44 und 47–57 der Verordnung (EU) 1215/2012 (EuGVVO). Ferner gilt die Anerkennungsnorm nach Art. 32 Abs. 1 UAbs. 2 EuInsVO für Entscheidungen in den insolvenztypischen Annexverfahren (siehe Rdn 108). Entscheidungen ohne nahen Bezug zum Insolvenzverfahren unterliegen dagegen gem. Art. 32 Abs. 2 EuInsVO sowohl hinsichtlich Anerkennung als auch Vollstreckung der EuGVVO.