Florian Kienle, Pius Dolzer
Rz. 90
Aus den dargestellten Grundsätzen ergibt sich mithin folgendes Bild: Im Hinblick auf jedes eine Auslandsgesellschaft betreffende Rechtsverhältnis ist zunächst zu untersuchen, welche Kollisionsnorm einschlägig ist; hierfür ist insbesondere die Abgrenzung von Insolvenz- und Gesellschaftsstatut von besonderer Bedeutung. Es besteht eine Tendenz, gläubigerschützende Rechtsinstitute gegenüber Auslandsgesellschaften zur Geltung zu bringen, indem sie dem Bereich des vom Gründungsrecht der Gesellschaft beherrschten Gesellschaftsrechts entzogen und dem an den tatsächlichen Interessenmittelpunkt anknüpfenden Insolvenzrecht zugeschlagen werden. Diese vornehmlich im Schrifttum vorherrschende, aber auch in der Rechtsprechung anzutreffende Tendenz hat der Gesetzgeber des MoMiG aufgegriffen und die früheren Gläubigerschutzkonzepte wesentlich stärker insolvenzrechtlich ausgestaltet bzw. in das Insolvenzrecht verlagert, namentlich die Insolvenzverschleppungshaftung – einst § 64 GmbHG, nunmehr § 15a InsO – und das Eigenkapitalersatzrecht – früher auch §§ 32a, 32b GmbHG, nunmehr nur noch §§ 39, 135 InsO. Nur die wenigsten der einschlägigen Haftungstatbestände dürften dem allgemeinen Verkehrsrecht zuzuordnen sein; gleichwohl ist auch hier eine Tendenz zu verspüren, Haftungstatbestände aus dem Gesellschaftsrecht in allgemeine Gefilde zu überführen, wie die Entscheidung des BGH in Sachen Trihotel mit ihrer Verortung der Existenzvernichtungshaftung unter dem Dach des § 826 BGB gezeigt hat.
Rz. 91
Führt die anzustellende Qualifikation dazu, dass ein Rechtsverhältnis als gesellschaftsrechtlich einzustufen ist, so ist die Anwendung des Gesellschaftsrechts des Zuzugsstaates im Wege einer Sonderanknüpfung durch ihre Vereinbarkeit mit der Niederlassungsfreiheit bedingt, während dies im Falle insolvenzrechtlicher Qualifikation tendenziell nicht der Fall ist.
Rz. 92
Neben die klassische Prüfung der kollisionsrechtlichen Anknüpfung tritt im europäischen Gesellschaftsrecht damit auf zweiter Stufe die Prüfung, ob die kollisionsrechtlich ermittelte Anknüpfung mit der Niederlassungsfreiheit vereinbar ist. Eine Unvereinbarkeit ergibt sich nicht per se aus der Anwendung eines fremden, d.h. nicht mit dem Gründungsrecht identischen Gesellschaftsrechts, sondern nur, soweit sich einzelne Regelungen auf die Niederlassungsfreiheit beschränkend auswirken. Handelt es sich bei derartigen Regelungen um rein tätigkeitsbezogene Regelungen, die gleichermaßen für Inländer gelten und keinen Bezug zur Niederlassung von Auslandsgesellschaften aufweisen, ist der Schutzbereich der Niederlassungsfreiheit bei nur geringfügiger Beeinträchtigung nicht eröffnet. Anderenfalls ist eine Rechtfertigungsprüfung erforderlich. Anhand dieser Maßstäbe sind in einem gesonderten Abschnitt die einzelnen Institute des deutschen Rechts, die im Sinne des Gläubigerschutzes auf Scheinauslandsgesellschaften Anwendung finden sollen, zu untersuchen (siehe hierzu Rdn 162 ff.).