Dr. iur. Wolfram Viefhues
Rz. 19
Die für die Bedarfsermittlung gem. § 1578 Abs. 1 Satz 1 BGB maßgeblichen früheren ehelichen Lebensverhältnisse enden nach der Rechtsprechung des BGH nicht bereits mit der Trennung der Ehegatten oder der Zustellung des Scheidungsantrages, sondern erst im Zeitpunkt der Rechtskraft der Ehescheidung.
Rz. 20
Entscheidend ist folglich die im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung im Scheidungsverfahren existente Einkommenssituation, da bis zur Rechtskraft der Scheidung jederzeit die eheliche Lebensgemeinschaft wieder aufgenommen werden kann und die Ehegatten bis zu diesem Zeitpunkt in unterhaltsrechtlichem Sinn miteinander verbunden sind. Bis zu diesem Zeitpunkt eingetretene Einkommensveränderungen sind grundsätzlich prägend. In die Bedarfsermittlung ist danach das für Unterhaltszwecke verfügbare Einkommen einzustellen, wie es vor Rechtskraft der Ehescheidung bestand.
Rz. 21
Damit ist grds. auch das Hinzutreten weiterer Unterhaltsberechtigter bis zur rechtskräftigen Ehescheidung bereits beim Bedarf des berechtigten Ehegatten und nicht nur bei der Leistungsfähigkeit des unterhaltspflichtigen Ehegatten zu berücksichtigen. Zu berücksichtigen sind also alle vor Rechtskraft der Scheidung entstandenen Unterhaltslasten. Denn die Unterhaltspflicht gegenüber solchen, vor Rechtskraft der Ehescheidung geborenen weiteren Unterhaltsberechtigten beeinflusst in gleicher Weise die ehelichen Lebensverhältnisse, weil sie auch schon während der später geschiedenen Ehe bestand
Rz. 22
Praxishinweis:
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Folglich wirken sich auch unterhaltsrelevante Veränderungen vor Eintritt der Rechtskraft der Ehescheidung wie z.B. die Geburt eines Kindes des unterhaltspflichtigen Ehemannes und dessen vorrangiger Unterhaltsanspruch (vgl. § 1609 Nr. 1 BGB) noch auf den Bedarf der getrennt lebenden Ehefrau aus. |
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Dies gilt auch hinsichtlich der zum gleichen Zeitpunkt entstandenen Unterhaltsansprüche der unverheirateten Mutter dieses Kindes aus § 1615l BGB, so dass auch tatsächliche Unterhaltszahlungen an die Mutter des Kindes gem. § 1616l BGB die ehelichen Lebensverhältnisse beeinflussen können. |
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Ein während der früheren Ehe entstandener Anspruch aus § 1615l BGB kann sich sogar dann negativ bedarfsprägend auswirken, wenn dieser Anspruch wegen eines sehr späten Stichtags der Rechtskraft der Scheidung nach einer langen Trennungszeit erst erhebliche Zeit nach dem Scheitern der Ehe entstanden ist. |
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Daher kann sich in der Praxis eine vor der unterhaltsberechtigten Ehefrau z.B. durch zahlreiche Verbundanträge ausgelöste Verlängerung der Trennungszeit und des Trennungsunterhaltsanspruchs durch die Verzögerung der Rechtskraft der Scheidung später negativ auf ihren nachehelichen Unterhaltsanspruch auswirken, wenn zwischenzeitlich ein Kind aus einer neuen Partnerschaft geboren wird. |
Rz. 23
Allerdings bedeutet die Bindung des Bedarfes an die ehelichen Lebensverhältnisse keine sich unverändert fortschreibende Lebensstandardgarantie. Vielmehr passen sich die ehelichen Lebensverhältnisse nach Trennung/Scheidung dauerhaft veränderten wirtschaftlichen Verhältnissen an.
Rz. 24
Praxishinweis:
Die ehelichen Lebensverhältnisse werden durch nachträgliche Veränderungen dagegen nicht berührt,
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soweit es sich um Einkommenserhöhungen handelt, die eine unerwartete, nicht mehr mit der Ehe zusammenhängende Entwicklung handelt |
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soweit es sich bei Einkommensminderungen um ein unterhaltsbezogen leichtfertiges Verhalten handelt und sie auch ohne Scheidung entstanden wären. |
Rz. 25
Später – nach Rechtskraft der Scheidung eintretende – einkommenserhöhende – Entwicklungen haben folglich nur dann diesen prägenden Charakter und können daher nur dann in die Bestimmung der ehelichen Lebensverhältnisse einbezogen werden, wenn sie bereits in der Ehe angelegt und mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten waren oder auch bei Fortbestand der Ehe deren Verhältnisse bestimmt hätten. Ohne Auswirkungen auf den Bedarf bleibt dagegen eine nacheheliche Entwicklung, die keinen Anknüpfungspunkt mehr in der Ehe findet.
Rz. 26
Nach der Rechtskraft der Scheidung eintretende Unterhaltsverpflichtungen wirken sich folglich regelmäßig nicht auf die ehelichen Lebensverhältnisse und damit auch nicht auf den Bedarf aus. Lediglich Entwicklungen, die bereits in der Ehe angelegt und mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten waren oder auch bei Fortbestand der Ehe deren Verhältnisse bestimmt hätten, haben ebenfalls prägenden Charakter noch für die ehelichen Lebensverhältnisse und beeinflussen damit den unterhaltsrechtlichen Bedarf.
Rz. 27
Ein praktisches Beispiel einer positiven Veränderung ist der sog. "Karrieresprung", also eine deutliche Steigerung des Einkommens eines Ehegatten aufgrund einer außergewöhnlichen beruflichen Entwicklung nach dem Ende der ehelichen Lebensverhältnisse.
Rz. 28
Aber auch bei nicht vorwerfbaren nachträglichen Verschlechterungen der Einkommensverhältnisse muss geprüft werden, ob diese Folge auch bei Fortbestand der Ehe eingetreten wäre...