Dr. iur. Wolfram Viefhues
Rz. 50
In der unterhaltsrechtlichen Praxis stellt sich – soweit der unterhaltsberechtigte Ehegatte nicht bereits einer Erwerbstätigkeit nachgeht, regelmäßig die Frage nach dem Umfang der Erwerbsobliegenheit. Wird nämlich eine bestehende Erwerbsobliegenheit verletzt, kommt die Anrechnung eines fiktiven Erwerbseinkommens in Betracht (dazu siehe § 17 Rdn 24 ff.).
1. Ohne Kinderbetreuung
Rz. 51
Früher wurde der Gedanke einer Bestandsgarantie betont. Der wirtschaftlich schwächere Ehegatte solle im Vertrauen auf den Fortbestand der gemeinsamen Planungen geschützt werden.
Rz. 52
Dieser Gedanke ist allerdings in den letzten Jahren weitgehend aufgegeben worden mit der Folge, dass die strengeren Regelungen des nachehelichen Unterhaltsrechts bereits auf die Trennungszeit ausgedehnt und diese Übergangsfrist erheblich verkürzt wird.
Rz. 53
Überwiegend wird die Anwendung der Grundsätze des nachehelichen Scheidungsrechts und vor allem die Verschärfung der Erwerbsobliegenheiten bereits auf den Trennungsunterhalt dann bejaht, wenn das Trennungsjahr abgelaufen ist und – zumindest wegen des gestellten Scheidungsantrages – das Scheitern der Ehe feststeht.
Rz. 54
Der Stand der Rechtsprechung lässt sich dahingehend zusammenfassen, dass von einem Ehegatten innerhalb des ersten Jahres nach der Trennung die erstmalige Aufnahme einer Erwerbstätigkeit oder die Ausweitung einer schon während des Zusammenlebens ausgeübten Tätigkeit in der Regel nicht erwartet werden kann. Mit einer sich verfestigenden Trennung – Ablauf des ersten Trennungsjahres und Rechtshängigkeit des Scheidungsantrags – gewinnt der Grundsatz der Eigenverantwortung insbesondere dann an Bedeutung, wenn die wirtschaftlichen Verhältnisse beengt sind. Von einer 41 Jahre alten Ehefrau, die mit zwei über 16 Jahre alten Kindern in einem Haushalt lebt, ist eindreiviertel Jahre nach der Trennung und bei einem bereits sechs Monate anhängigen Scheidungsverfahren auch dann die Aufnahme einer vollschichtigen Erwerbstätigkeit zu erwarten, wenn sie sich zuvor 14 Jahre lang auf die Führung des Haushalts beschränkt hatte. Dagegen sind von einem zur Zeit der Trennung über 60 Jahre alten Ehegatten keine Bemühungen um die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit mehr zu erwarten, wenn dieser sich nach dem Bezug von Arbeitslosengeld im Vorruhestand befand und der Erhalt einer Arbeitsstelle aufgrund des erreichten Alters sowie gesundheitlicher Einschränkungen als unrealistisch einzuschätzen ist.
Rz. 55
Praxistipp:
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Hier kann es sich für den Unterhaltspflichtigen empfehlen, den Scheidungsantrag zu stellen, um damit das Scheitern der Ehe zu dokumentieren. |
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Eine Verzögerung des Trennungszeitraumes lohnt sich nicht. |
BGH, Urt. v. 5.3.2008 – XII ZR 22/06
Zitat
Die beim Trennungsunterhalt gem. § 1361 Abs. 2 BGB gegenüber der Regelung in § 1574 BGB zum nachehelichen Ehegattenunterhalt deutlich schwächere Erwerbsobliegenheit will die bestehenden Verhältnisse für die Dauer der Trennungszeit schützen. Im Hinblick auf den Sinn der Trennungszeit und die sich langsam abschwächenden Folgen der ehelichen Lebensgemeinschaft ist aber auch die Dauer der Trennung zu berücksichtigen. Während einem im Zeitpunkt der Trennung längere Zeit nicht erwerbstätig gewesenen Ehegatten im ersten Trennungsjahr in der Regel keine Erwerbsobliegenheit trifft, nähern sich die Voraussetzungen der Erwerbsobliegenheit mit zunehmender Verfestigung der Trennung, insbesondere wenn die Scheidung nur noch eine Frage der Zeit ist, immer mehr den Maßstäben des nachehelichen Unterhalts an. Zudem hatte die Erwerbsobliegenheit schon mit Abschluss des Ehevertrages und die dadurch verfestigte Trennung zunehmend an Bedeutung gewonnen.
OLG Saarbrücken v. 23.3.2021 – 6 UF 136/20 m.w.N.
Zitat
Die Anforderungen hinsichtlich einer Erwerbsobliegenheit sind für den Trennungsunterhalt zunächst großzügiger – und später nie strenger –, als sie für den nachehelichen Unterhalt bestimmt sind. Denn die gegenüber dem nachehelichen Unterhalt – dort gilt § 1569 BGB – deutlich schwächere Erwerbsobliegenheit will die bestehenden Verhältnisse schützen, damit die Wiederherstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft nicht erschwert wird. Deswegen kann die erstmalige Aufnahme einer Erwerbstätigkeit oder die Ausweitung einer Tätigkeit noch innerhalb des ersten Jahres nach der Trennung ("Schonfrist") in der Regel nicht verlangt werden. Im Hinblick auf den Sinn der Trennungszeit und die sich langsam abschwächenden Folgen der ehelichen Lebensgemeinschaft ist aber auch die Dauer der Trennung zu berücksichtigen. Mit zunehmender Verfestigung der Trennung, insbesondere wenn die Scheidung nur noch eine Frage der Zeit ist, besteht für eine erheblich großzügigere Beurteilung in der Regel kein Grund mehr und nähern sich die Voraussetzungen der Erwerbsobliegenheit den Maßstäben des nachehelichen Unterhalts an. Bei der Einzelfallbeurteilung sind auch die Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Ehegatten in den Blick zu nehmen.
OLG Karlsruhe v. 3.6.2020 – 20 UF 83/19