Andre Naumann, Christian Brinkmann
Rz. 54
Ziff. 1.4 AUB 08/99
§ 1 IV AUB 94/88
§ 2 (2) a) AUB 61
I. Allgemeines
Rz. 55
Alle Bedingungswerke beziehen neben dem eigentlichen Unfallversicherungsschutz auch bestimmte Fälle einer erhöhten Kraftanstrengung in den Versicherungsschutz ein. Während Ziff. 1.4 AUB 08/99 und § 1 Abs. IV AUB 94/88 einen Unfall fingieren, weshalb man auch von Unfallfiktion spricht, ist § 2 Abs. (2) a) AUB 61 als echter Einschluss formuliert.
Kraftanstrengungen sind mangels Einwirkung von außen keine Unfälle, sondern Eigenbewegungen der VP und damit innerkörperliche Vorgänge (siehe oben Rn 14). Eine erhöhte Kraftanstrengung und ein Unfall schließen sich daher begrifflich aus. Da kleinste Details über die Einordnung als Unfall oder (erhöhte) Kraftanstrengung entscheiden können, muss der Hergang sorgfältig beschrieben werden.
Die erhöhte Kraftanstrengung ist ein auslegungsbedürftiger Rechtsbegriff. Wann eine Kraftanstrengung erhöht ist und welcher Maßstab dabei anzulegen ist, muss konkretisiert werden. Die konturgebenden Grenzen sind dabei in der den Unfallbegriff ersetzenden Funktion der Versicherungsschutzerweiterung zu sehen, also in der einzelnen, die Gesundheit adäquat kausal schädigenden Situation. Ob ein versicherter Schadenfall vorliegt, bedarf daher stets einer Einzelfallbetrachtung.
Rz. 56
Praxistipp
Nach genauer Sachverhaltsfeststellung mit der VP sollte gegenüber dem VR auch deutlich werden, ob man von einem Unfall oder einer erhöhten Kraftanstrengung ausgeht.
Nicht sinnvoll sind Hergangsbeschreibungen, welche die Terminologie der Unfallversicherungsbedingungen verwenden. So sollten Formulierungen wie "plötzliche Kraftanstrengung", "unfreiwillig viel Kraft aufwenden" oder "gegen die von außen wirkende Gewalt musste die VP ihre ganze Kraft aufwenden" vermieden werden. Solche Darstellungen resultieren häufig aus der Motivation, das Geschehen anhand der Bedingungen "wasserdicht" zu formulieren. Dies erweckt aber unnötiges Misstrauen.
II. Versicherte Verletzungen
1. AUB 08/99 und AUB 94/88
Rz. 57
Als Unfall gilt auch, wenn durch eine erhöhte Kraftanstrengung an Gliedmaßen oder Wirbelsäule ein Gelenk verrenkt wird oder Muskeln, Sehnen, Bänder oder Kapseln gezerrt oder zerrissen werden. Zu den Gliedmaßen ist richtigerweise auch die Schulter zu zählen. Diese Einordnung hat Bedeutung für die praxisrelevante Problematik der sog. Rotatorenmanschettenruptur.
Eine Verrenkung (Luxation) ist eine Gelenkverletzung mit vollständiger Diskontinuität der gelenkbildenden Knochenenden.
Als Zerrung (Distorsion) bezeichnet man Faserrisse im Bandapparat. Dazu zählen auch reversible Vorgänge, die nicht zu einer Zerreißung geführt haben. Eine Zerreißung ist das Ergebnis zweier auseinanderstrebender Kräfte, die eine vollständige Trennung des betroffenen Muskels, der Sehne, des Bandes oder der Kapsel nicht erfordert. Eine Zerreißung entsteht durch Drehung oder Zug.
Der Versicherungsschutz bei erhöhten Kraftanstrengungen gilt nicht für jeden Teil des Körpers. So sind der Meniskus, die Bandscheiben und auch Knochen nicht von der Unfallfiktion erfasst, weil es sich anatomisch weder um Muskeln, Sehnen, Bänder oder Kapseln handelt. Ein durch eine erhöhte Kraftanstrengung hervorgerufener Bandscheibenvorfall ist somit nicht versichert.
Ebenfalls nicht erfasst sind ein arterieller Verschluss, eine Bauchmuskelzerrung oder ein durch übermäßige Belastung hervorgerufenes Muskelkompartment.
2. AUB 61
Rz. 58
Unter den Versicherungsschutz fallen hier durch Kraftanstrengung der VP hervorgerufene Verrenkungen, Zerrungen und Zerreißungen an Gliedmaßen und Wirbelsäule, § 2 (2) a) AUB 61. Die Formulierung der AUB 61 ist weiter gefasst als in den AUB 08/99 und AUB 94/88. So gehören auch Meniskusrisse und Bandscheibenvorfälle als Zerreißung an einer Gliedmaße mit zu den grundsätzlich versicherten Verletzungen.
Umstritten ist die Frage, ob ein Knochenbruch, der unter Druck oder Stoß getrennt wurde, als Zerreißung zu werten ist. Wirken jedoch an beiden Enden eines Knochens entgegengesetzte Kräfte, dann wird dieses Bersten des Knochens als Zerreißung angenommen.