Rz. 68

Ein großes Problem in der Praxis ist darin zu sehen, dass bei den Zuwendungen die an sich gewollte Anrechnungsbestimmung nicht erfolgt. Oft wird eine Nachholung einer solchen Anrechnungsbestimmung in handschriftlicher Form praktiziert. Dies ist ein untauglicher Versuch, führt er doch nicht zu der gewünschten Anrechnung. Zwar war ursprünglich im Rahmen der Erbrechtsreform beabsichtigt, einem Erblasser die Möglichkeit der nachträglichen Anrechnung in der Form der letztwilligen Verfügung einzuräumen, diese Gesetzesänderung ist jedoch nicht umgesetzt worden. Will der Erblasser nachträglich einer bereits erfolgten Zuwendung noch einen Anrechnungscharakter geben, verbleibt ihm nichts anderes, als einen entsprechenden Pflichtteilsverzicht mit dem Empfänger notariell beurkunden zu lassen.

 

Rz. 69

Eine weitere Möglichkeit besteht in der in der Praxis oft übersehenen Alternative, dass die erfolgte Zuwendung als Ausstattung einzustufen ist, die nach § 2316 BGB von Gesetzes wegen zu berücksichtigen wäre. Wie bereits erwähnt, sind Ausstattungen Vermögenszuwendungen, die einem Kind anlässlich einer Heirat gemacht werden, also die sogenannte Mitgift, eine Aussteuer oder Zuwendungen zur Begründung oder Unterhaltung der Selbstständigkeit.

 

Rz. 70

Eine dritte Möglichkeit besteht darin, die Regelungen des § 2327 BGB zu aktivieren. Dann müsste der Erblasser weitere lebzeitige Zuwendungen an die anderen Abkömmlinge machen. § 2327 BGB schreibt vor, dass bei einem Pflichtteilsergänzungsanspruch die erfolgten Eigengeschenke an den jeweiligen Pflichtteilsberechtigten immer angerechnet werden.

 

Rz. 71

 

Beispielsfall

Der Witwer W. hat seiner Tochter zu Lebzeiten einen Betrag i.H.v. 100.000 EUR ohne weitere Bestimmungen geschenkt.

Nach späterem Streit mit ihr setzt er seine beiden Söhne S1 und S2 zu seinen Erben ein. Er hinterlässt einen Nachlass von 300.000 EUR.

Hier hätte die Tochter einen Pflichtteilsanspruch von 1/6, errechnet aus einem Nachlasswert von 300.000 EUR, also i.H.v. 50.000 EUR. Unter dem Strich hat die Tochter also am Gesamtnachlass einen Anteil i.H.v. 150.000 EUR, während die beiden Söhne jeweils nur ½ des Nachlasses abzüglich des Pflichtteilsanspruchs ihrer Schwester erhalten, jeder also lediglich 125.000 EUR.

Entschlösse sich jetzt der Witwer angesichts der sich abzeichnenden Pflichtteilsproblematik, sein gesamtes Vermögen noch lebzeitig auf seine beiden Söhne zu übertragen, würde wie folgt gerechnet:

Ein Nachlass wäre nicht mehr vorhanden (da insgesamt lebzeitig verschenkt).

Der Pflichtteilsergänzungsnachlass errechnet sich aus allen Geschenken zusammengenommen, ergibt also den Betrag von 400.000 EUR.

Der Pflichtteilsergänzungsanspruch der Tochter beträgt auch hier 1/6, ergibt also den Betrag von 66.666 EUR.

Nach § 2327 BGB muss sie sich in diesem Falle das Eigengeschenk von 100.000 EUR anrechnen lassen, so dass sie keinen werthaltigen Anspruch mehr hätte.

Der Charme dieser Lösung liegt auch noch darin, dass die zeitliche Schranke des § 2325 Abs. 3 BGB für die Berücksichtigung von Eigengeschenken nicht gilt.[45]

 

Rz. 72

Muster 3.6: Pflichtteilsverzicht (vergessene Anrechnungsbestimmung)

 

Muster 3.6: Pflichtteilsverzicht (vergessene Anrechnungsbestimmung)

§ 1

Urkundseingang pp.

§ 2

Nachträgliche Vereinbarungen zur Anrechnung einer lebzeitigen Zuwendung auf den Pflichtteil

Der Erschienene zu 1. _________________________ und der Erschienene zu 2. _________________________ stellen übereinstimmend fest, dass der Erschienene zu 2. bislang aus dem Vermögen des Erschienenen zu 1. bereits Zuwendungen i.H.v. _________________________ EUR erhalten hat.

§ 3

Hiermit wird vereinbart, dass diese Zuwendungen auf den Pflichtteilsanspruch des Erschienenen zu 2. nach dem Erschienenen zu 1. anzurechnen sind.

§ 4

Die Erschienenen sind sich über den damit vereinbarten beschränkten Pflichtteilsverzichts einig. Vorsorglich nimmt der Erschienene zu 1. den Pflichtteilsverzicht des Erschienenen zu 2. hiermit an. Der Verzicht erstreckt sich auf die Abkömmlinge des Erschienenen zu 2.

§ 5

Kosten

Die Kosten dieses Vertrages trägt _________________________.

Vorlesungs-/Schlussvermerk

[45] Wall, ZErb 2011, 10, 12; BGHZ 108, 393, 399.

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