1. Begriff eines Anwartschaftsrechts
Rz. 4
Nach Eintritt des Erbfalls besteht die Rechtsstellung des Nacherben darin, dass er die Aussicht darauf hat, später einmal Erbe zu werden. Diese Aussicht wird durch die gesetzlichen Beschränkungen und Verpflichtungen des Vorerben schon vor Eintritt des Nacherbfalls gesetzlich abgesichert. Der Erbfall bewirkt daher einen gewissen Voranfall der Nacherbschaft an den Nacherben, da er nun eine gesicherte Erwartung hat, mit dem Nacherbfall die Erbschaft zu erlangen. Vor- und Nacherben sind keine Miterben und auch nicht mit diesen vergleichbar, da der Erblasser nicht von ihnen gleichzeitig, sondern nacheinander beerbt wird. Zwischen dem Vorerben einerseits und dem Nacherben andererseits besteht keine Erbengemeinschaft.
Rz. 5
Dem Nacherben steht mit Eintritt des Erbfalls ein Anwartschaftsrecht zu. Von einem Anwartschaftsrecht spricht man bei einem Sachverhalt, bei dem von dem mehraktigen Entstehungstatbestand eines Rechts schon so viele Erfordernisse erfüllt sind, dass von einer gesicherten Rechtsposition gesprochen werden kann, die der andere, an der Entstehung des Rechts Beteiligte, nicht mehr durch eine einseitige Erklärung – oder durch das Unterlassen einer Erklärung – zu zerstören vermag. Der Nacherbe erwirbt mit dem Erbfall ein solches unentziehbares Anwartschaftsrecht, das regelmäßig vererblich und übertragbar ist (§ 2108 Abs. 2 S. 1 BGB).
2. Primärnacherbe, Ersatznacherbe und Nach-Nacherbe als Anwartschaftsrechtsinhaber
Rz. 6
Auch die Position des Ersatznacherben stellt bereits ein Anwartschaftsrecht dar, das ebenfalls – vorbehaltlich anderer Anordnungen des Erblassers – frei übertragbar und vererblich ist. Demnach bestehen von Anfang an zwei Anwartschaftsrechte:
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das des Primärnacherben und |
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das des Ersatznacherben. |
Damit erlischt mit einer wirksamen Übertragung des Anwartschaftsrechts von Seiten des Primärnacherben dessen Anwartschaftsrecht durch Konsolidation, jedoch wird der Vorerbe nicht Vollerbe, da noch das Anwartschaftsrecht des Ersatznacherben bestehen bleibt.
Rz. 7
Probleme bereitet zuweilen jedoch schon die Feststellung, ob überhaupt Ersatznacherben vorhanden sind. Zu beachten ist nämlich, dass die Benennung eines Ersatznacherben nicht immer ausdrücklich durch den Erblasser erfolgt sein muss. Vielmehr kann sie sich auch durch individuelle Auslegung des Testamentes oder in Anwendung der in § 2069 BGB enthaltenen Ergänzungsregel ergeben. Bei der Auslegung eines Testamentes ohne ausdrückliche Benennung eines Ersatznacherben kann sich ein Konflikt zwischen der Norm des § 2108 Abs. 2 S. 1 BGB, welche die grundsätzliche Vererblichkeit der Nacherbenanwartschaftsrechte anordnet, und der Norm des § 2069 BGB, die im Falle der Erbeinsetzung eines Abkömmlings die Vermutung der Ersatzerbeneinsetzung nach Stämmen aufstellt, ergeben.
Rz. 8
Hat der Erblasser eine gestaffelte, auch gestuft genannte Nacherbfolge ("Nach-Nacherbfolge") angeordnet, dann hat auch der Nach-Nacherbe bzw. haben die Nach-Nacherben ein Anwartschaftsrecht i.S.v. § 2108 Abs. 2 BGB.
3. Zweck
Rz. 9
Die Rechtfertigung für die Schaffung einer vererblichen und übertragbaren Anwartschaft für den Nacherben liegt in deren wirtschaftlichen Verwertbarkeit vor Eintritt des Nacherbfalls.
Hinweis für die Rechtsgestaltung
Falls Vererblichkeit und/oder Übertragbarkeit des Nacherbenanwartschaftsrechts ausgeschlossen sein soll, sollte die Übertragbarkeit auf den Vorerben erhalten bleiben, damit die Vor- und Nacherbschaft einvernehmlich zwischen Vor- und Nacherbe beendet werden kann.
4. Die Veräußerung des Anwartschaftsrechts
a) Die Veräußerung an einen Dritten
Rz. 10
Das Anwartschaftsrecht kann veräußert werden, sofern der Erblasser die Veräußerbarkeit nicht ausgeschlossen hat. Die Verfügung über das Anwartschaftsrecht bedarf in analoger Anwendung von § 2033 BGB der notariellen Beurkundung. Der zugrunde liegende schuldrechtliche Vertrag ist in analoger Anwendung der §§ 2371, 2385 BGB ebenfalls formbedürftig.
Der Erwerber tritt in die Rechtsstellung des Nacherben ein. Er wird zwar nicht sofort mit der Übertragung des Anwartschaftsrechts Erbe, gleichwohl fällt der Nachlass dem Erwerber mit Eintritt des Nacherbfalls ohne Durchgangserwerb an.
b) Die Veräußerung an den Vorerben
Rz. 11
Überträgt der Nacherbe die Anwartschaft auf den Vorerben, so wird dieser von den Beschränkungen der Vorerbschaft befreit. Vollerbe wird er nur, wenn keine Ersatznacherbfolge angeordnet ist. Insbesondere in einem "Verzicht" des Nacherben auf seine Rechte zugunsten des Vorerben wird häufig eine Übertragung des Anwartschaftsrechts zu sehen sein. Aber auch in einem solchen Fall ist ein beurkundungsbedürftiger Vertrag erforderlich, §§ 2033, 2371, 2385 BGB. Einen einseitigen oder formlosen Verzicht des Nacherben auf seine Rechte kennt das Gesetz nicht.
Eine Übertragung auf den Vorerben ist auch dann anzunehmen, wenn der Nacherbe dem Vorerben gegenüber in notariell beurkundeter Form auf sein Nacherbenrecht verzichtet.