Dr. iur. Berthold Hilderink, Prof. Dr. Martin Becker
Rz. 1235
Seit seiner Entscheidung v. 27.2.1997 begründet das BAG (2 AZR 160/96, NZA 1997, 757) den Wiedereinstellungsanspruch mit der Überlegung, dass es sich dabei um ein notwendiges Korrektiv handle, weil die Rspr. allein aus Gründen der Rechtssicherheit, Verlässlichkeit und Klarheit bei der Prüfung des Kündigungsgrundes auf den Zeitpunkt des Kündigungsausspruches abstelle und schon eine Kündigung aufgrund einer Prognoseentscheidung zulasse, obwohl der Verlust des Arbeitsplatzes, vor dem der Arbeitnehmer durch § 1 KSchG geschützt werden solle, erst mit dem tatsächlichen Ausscheiden bei Ablauf der Kündigungsfrist eintrete. Der Arbeitgeber verhalte sich rechtsmissbräuchlich gem. § 242 BGB, wenn er bei Wegfall des Kündigungsgrundes den veränderten Umständen nicht Rechnung trage und zur Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht bereit sei (vgl. in diesem Sinne BAG v. 25.10.2007 – 8 AZR 989/06, NZA 2008. 357 f.; s.a. Oberhofer, RdA 2006, 92 f.; vom Stein, in: FS Willemsen, 2018, S. 575, 576). Das BAG versammelt kumulativ nahezu alle Elemente eines Begründungsansatzes, nämlich
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Einwand des Rechtsmissbrauchs, |
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Wegfall der Geschäftsgrundlage, |
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Korrektur der Prognoseentscheidung, |
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Schutzzweck des KSchG, |
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Art. 12 GG, |
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Vertrauensschutz des Arbeitnehmers und mangelnde Schutzwürdigkeit des Arbeitgebers. |
Rz. 1236
Diese Begründungsansätze erweisen sich bei genauer Betrachtung als nicht unproblematisch. Widersprüchliches Verhalten kann dem Arbeitgeber schon deshalb nicht vorgeworfen werden, weil die vorangegangene Kündigung wirksam und damit die Beendigung des Arbeitsverhältnisses eingetreten ist. Widersprüchlich könnte nur die Weigerung des Arbeitgebers sein, den rechtmäßig entlassenen Arbeitnehmer wieder einzustellen. Ein rechtsethisches Prinzip, jemand dürfe sich auf die Rechtmäßigkeit eines früheren Verhaltens nicht berufen, weil nachträglich veränderte Umstände eingetreten sind, ist in der deutschen Rechtsordnung nicht verankert. Die Argumentation des BAG, der für die Rechtfertigung einer Kündigung zugelassenen Prognose müsse als Korrektiv der Wiedereinstellungsanspruch gegenübergestellt werden, ist daher Bedenken ausgesetzt. Dann dürfte der Fortsetzungsanspruch nur für den Fall einer prognostizierten, aber noch nicht eingetretenen Beschäftigungsarmut bestehen. Kündigt der Arbeitgeber wegen beabsichtigter Betriebsstilllegung und wird der Betrieb dann doch wider Erwarten fortgesetzt, müsste er die entlassenen Arbeitnehmer wieder einstellen. Er wäre von dieser Verpflichtung aber befreit, wenn die fehlende Beschäftigungsmöglichkeit bereits eingetreten ist und er deshalb kündigt, weil tatsächlich keine Beschäftigungsmöglichkeit mehr besteht.
Rz. 1237
Es geht daher weniger um die Korrektur einer Prognose als vielmehr um den späteren Wegfall des Kündigungsgrundes. Anderenfalls hätte das BAG die Möglichkeit erwägen müssen, seine Rspr. zum Prognoseprinzip zu ändern und die Wirksamkeit der Kündigung nicht nach der zum Zeitpunkt ihres Ausspruches bestehenden Tatsachenlage, sondern bspw. wie beim Auflösungsantrag nach den Verhältnissen zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz zu beurteilen. I.Ü. muss gesehen werden, dass das BAG dem Arbeitgeber keinesfalls eine freie und ungeprüfte Prognoseentscheidung zubilligt, sondern diese muss hinreichend fundiert und objektiv gerechtfertigt sein (vgl. zur Kritik Kaiser, ZfA 2000, 205 ff.).