Dr. iur. Berthold Hilderink, Prof. Dr. Martin Becker
a) Betrieb als Anknüpfungspunkt
Rz. 851
Bei der Prüfung, ob beabsichtigte Kündigungen zur Anzeigepflicht nach § 17 Abs. 1 KSchG führen, ist nach der gesetzlichen Vorgabe auf die Organisationseinheit Betrieb abzustellen. Das BAG hat seine Auffassung, dass sich der Betriebsbegriff i.S.d. § 17 Abs. 1 KSchG an dem der §§ 1, 4 BetrVG orientiert (zuletzt BAG v. 26.1.2017 – 6 AZR 442/16, NZA 2017, 577), inzwischen aufgegeben (BAG v. 13.3.2020 – 6 AZR 146/19, NZA 2020, 1006). Es handelt sich insofern um einen eigenständigen europarechtlichen Betriebsegriff, der streng von dem des KSchG und des BetrVG zu trennen ist. "Betrieb" i.S.d. MERL ist die Einheit, der die von der Entlassung betroffenen Arbeitnehmer zur Erfüllung ihrer Aufgaben angehören. Dabei muss es sich um eine unterscheidbare Einheit von einer gewissen Dauerhaftigkeit und Stabilität handeln, die zur Erledigung einer oder mehrerer Aufgaben bestimmt ist und über eine Gesamtheit von Arbeitnehmern sowie über technische Mittel und eine organisatorische Struktur zur Erfüllung dieser Aufgaben verfügt (BAG v. 13.3.2020 – 6 AZR 146/19, NZA 2020, 1006). Der Betriebsbegriff des § 17 KSchG ist insofern weiter zu verstehen als der des BetrVG und des KSchG, als dass die Einheit nicht zwingend wirtschaftlich, finanziell verwaltungsmäßig oder technologisch unabhängig sein muss, um als Betrieb zu gelten (EuGH v. 30.4.2015 – C – 80/14, NZA 2015, 601). Dies wird begründet mit der Zielrichtung der MERL, die insbesondere lokale sozioökonomische Auswirkungen betrifft, die die Massenentlassung in einem örtlichen Kontext und einer sozialen Umgebung hervorrufen können. Insoweit stellt die MERL auch keine hohen organisatorischen Anforderungen an die Leitungsstruktur. Es genügt, wenn eine lokale Leitung besteht, welche die ordnungsgemäße Durchführung der Arbeit und die Kontrolle des Gesamtbetriebs sicherstellt (EuGH v. 15.2.2007 – C – 270/05, NZA 2007, 319). Es ist insofern nicht entscheidend, ob vor Ort formale Entscheidungsbefugnisse betehen, sondern ob eine objektiv und örtlich bestimmbare Einheit vorliegt (ErfK/Kiel, § 17 KSchG Rn 5). Dies hat zur Folge, dass eine bloße Zentralisierung von Entscheidungsbefugnissen an einem anderen Ort die Annahme eines Betriebs auf lokaler Ebene nicht verhindern kann (BAG v. 13.3.2020 – 6 AZR 146/19, NZA 2020, 1006). Im Gegensatz zu dem von Rspr. und Lehre für das BetrVG und das KSchG entwickelten Betriebsbegriff ist der der des § 17 KSchG seit der Entscheidung des BAG vom 13.3.2020 hinsichtlich der Organisationsstruktur damit weitestgehend entkernt (Moll, RdA 2021, 49).
Rz. 852
Auf Saisonbetriebe und auf Kampagnebetriebe finden die Vorschriften über anzeigepflichtige Entlassungen dann keine Anwendung, wenn die Entlassungen gerade durch die Eigenart dieser Betriebe – Entlassungen wegen des Endes der Saison bzw. der Kampagne – bedingt sind, § 22 Abs. 1 KSchG. Anders verhält es sich, wenn nicht die vorerwähnten betriebstypischen Entlassungen vorliegen, sondern andere Gründe hierfür maßgeblich sind, etwa betriebliche Organisationsänderungen, die zum Verlust von Arbeitsplätzen führen. Auf derartige Gründe zurückzuführende Entlassungen sind wie bei anderen Betrieben auch unter den Voraussetzungen des § 17 Abs. 1 KSchG anzuzeigen. Keine Saisonbetriebe oder Kampagnebetriebe – dies stellt § 22 Abs. 2 S. 1 KSchG klar – sind Betriebe des Baugewerbes, in denen die ganzjährige Beschäftigung gem. SGB III gefördert wird. Von der Möglichkeit, durch Rechtsverordnung festzulegen, welche Betriebe als Saisonbetriebe oder Kampagnebetriebe gelten, § 22 Abs. 2 S. 2 KSchG, hat das BMAS bislang keinen Gebrauch gemacht.
Rz. 853
Für Seeschiffe und ihre Besatzung gelten die Vorschriften über anzeigepflichtige Entlassungen nicht, § 23 Abs. 2 S. 2 KSchG. Ebenso wenig gelten die Vorschriften der §§ 17 ff. KSchG bei arbeitskampfbedingten Entlassungen, § 25 KSchG.
b) Die i.d.R. beschäftigten Arbeitnehmer als Anknüpfungspunkt
Rz. 854
Für das Eingreifen der nach der Betriebsgröße gestaffelten Anzeigepflicht kommt es auf die Zahl der "in der Regel" beschäftigten Arbeitnehmer an. Bei der Ermittlung dieser Zahl ist auf den Zeitpunkt der Entlassung, d.h. auf den Zeitpunkt des Zuganges der schriftlichen Kündigungserklärung (s. § 29 Rdn 40 ff.) abzustellen (vgl. BAG v. 24.2.2005 – 2 AZR 207/04, NZA 2005, 766; BAG v. 13.6.2019 – 6 AZR 459/18, BB 2019, 2554 = NZA 2019, 1638). Auch unter dieser geänderten Prämisse gilt: Maßgeblich ist nicht die tatsächliche Beschäftigtenzahl zu diesem Zeitpunkt, sondern die normale Beschäftigtenzahl des Betriebes, d.h. diejenige Personalstärke, die für den Betrieb im Allgemeinen kennzeichnend ist (BAG v. 31.7.1986, DB 1987, 1592 = NZA 1987, 587; BAG v. 24.2.2005, NZA 2005, 766 = DB 2005, 1576). Zur Feststellung der regelmäßigen Beschäftigtenzahl bedarf es grds. eines Rückblickes auf die bisherige personelle Stärke des Betriebes und einer Einschätzung der künftigen Entwicklung. Im Fall einer Betriebsstilllegung kommt jedoch nur ein Rückblick auf die bisherige Belegschaftsstärke infrage. Maßgebend ist der im Zeitpunkt des Stilllegungsbeschlusses vorh...