Dr. iur. Berthold Hilderink, Prof. Dr. Martin Becker
Rz. 360
Seit der grundlegenden Entscheidung des BAG v. 4.6.1997 (AP Nr. 137 zu § 626 BGB m. Anm. Felderhoff) wird eine Abmahnung vor Ausspruch jeder Kündigung für erforderlich gehalten, wenn es um ein steuerbares Verhalten des Arbeitnehmers geht und eine Wiederherstellung des Vertrauens erwartet werden kann (BAG v. 4.6.1997, AP Nr. 137 zu § 626 BGB; BAG v. 10.2.1999, AP Nr. 42 zu § 15 KSchG; BAG v. 9.2.2006, EzA § 308 BGB 2002 Nr. 3). Mit dieser Rspr. wurde die frühere Differenzierung nach Störbereichen aufgegeben und die Prüfung aller Abmahnungen anhand der Maßstäbe vorgenommen, die für Kündigungen wegen Störungen im Leistungsbereich gelten (BAG v. 10.2.1999, AP Nr. 42 zu § 15 KSchG). Beruht die Vertragspflichtverletzung also auf steuerbarem Verhalten des Arbeitnehmers, ist grundsätzlich davon auszugehen, dass sein künftiges Verhalten schon durch die Androhung von Folgen für den Bestand des Arbeitsverhältnisses positiv beeinflusst werden kann (BAG v. 25.10.2012 – 2 AZR 495/11, Rn 16; BAG v. 19.4.2012 – 2 AZR 186/11, Rn 22, BAG NJW 2013, 104; BAG v. 9.6.2011 – 2 AZR 284/10, Rn 35, BAG EzA BGB 2002 § 626 Nr. 37). Sowohl eine ordentliche als auch eine außerordentliche Kündigung wegen einer Vertragspflichtverletzung setzen deshalb regelmäßig eine Abmahnung voraus. Eine solche ist nach Maßgabe des auch in § 314 Abs. 2 i.V.m. § 323 Abs. 2 BGB zum Ausdruck kommenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nur dann entbehrlich, wenn bereits ex ante erkennbar ist, dass eine Verhaltensänderung in Zukunft auch nach Abmahnung nicht zu erwarten steht, oder es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handelt, dass selbst deren erstmalige Hinnahme dem Arbeitgeber nach objektiven Maßstäben unzumutbar und damit offensichtlich – auch für den Arbeitnehmer erkennbar – ausgeschlossen ist (BAG v. 25.10.2012 – 2 AZR 495/11, Rn 16; BAG v. 19.4.2012 – 2 AZR 186/11, Rn 22; BAG v. 9.6.2011 – 2 AZR 284/10, Rn 35). Dies bedeutet, dass bei einer Kündigung aus verhaltensbedingten Gründen auf eine Abmahnung jedenfalls dann verzichtet werden kann, wenn trotz einer Abmahnung nicht erwartet werden kann, dass sich das Verhalten des Arbeitnehmers in Zukunft ändern wird (BAG v. 19.4.2007, NZA-RR 2007, 571, 576), oder der Arbeitnehmer sich eine schwere Pflichtverletzung hat zuschulden kommen lassen, deren Rechtswidrigkeit ihm ohne Weiteres erkennbar und deren Hinnahme durch den Arbeitgeber offensichtlich ausgeschlossen war (BAG v. 12.1.2006, EzA § 1 KSchG 2001 Nr. 67; BAG v. 19.4.2007, NZA-RR 2007, 571, 576; BAG v. 31.5.2007, EzA § 1 KSchG Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 71).