Dr. iur. Berthold Hilderink, Prof. Dr. Martin Becker
Rz. 539
Eine sexuelle Belästigung i.S.v. § 3 Abs. 4 AGG stellt – unabhängig von ihrer Strafbarkeit – nach § 7 Abs. 3 AGG eine Verletzung vertraglicher Pflichten dar, die "an sich" als wichtiger Grund i.S.v. § 626 Abs. 1 BGB geeignet ist (BAG v. 29.6.2017 – 2 AZR 302/16, Rn 15; BAG v. 2.3.2017 – 2 AZR 698/15, Rn 36; BAG v. 9.6.2011, NZA 2011, 1342). Nach der Definition des § 3 Abs. 4 AGG ist unter sexueller Belästigung ein unerwünschtes, sexuell bestimmtes Verhalten zu verstehen, welches bezweckt oder bewirkt, dass die Würde der betroffenen Person verletzt wird, insb. wenn ein von Einschüchterungen, Anfeindungen, Erniedrigungen, Entwürdigungen oder Beleidigungen gekennzeichnetes Umfeld geschaffen wird. Im Unterschied zu § 3 Abs. 3 AGG können auch einmalige sexuell bestimmte Verhaltensweisen den Tatbestand einer sexuellen Belästigung erfüllen (BAG v. 29.6.2017 – 2 AZR 302/16, Rn 17; BAG v. 2.3.2017 – 2 AZR 698/15, Rn 36; BAG v. 20.11.2014 – 2 AZR 651/13, Rn 16, 17).
Rz. 540
In Betracht kommen als derartige Handlungen nach § 3 Abs. 4 AGG sexuell bestimmte körperliche Berührungen, Bemerkungen sexuellen Inhaltes sowie das unerwünschte Zeigen und sichtbare Anbringen von pornografischen Darstellungen. Dazu gehören unerwünschte anzügliche Bemerkungen, intime Fragen, Äußerungen über sexuelles Verhalten oder Neigungen, körperliche Kontakte, wie bspw. das Umlegen eines Armes um die Schultern und gar das absichtliche Berühren von primären oder sekundären Geschlechtsmerkmalen eines anderen (BAG v. 29.6.2017 – 2 AZR 302/16, Ls.; BVerwG v. 15.11.1996 – BVerwG 1 DB 5.96, NJW 1997, 958; LAG Hamm v. 13.12.1997, BB 1997, 1485) und zwar unabhängig davon, ob die Körperteile bekleidet oder unbekleidet sind (BAG v. 2.3.2017 – 2 AZR 698/15, Rn 36; BAG v. 20.11.2014 – 2 AZR 651/13, Rn 18).
Rz. 541
Schutzgut der § 7 Abs. 3, § 3 Abs. 4 AGG ist die sexuelle Selbstbestimmung als Konkretisierung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG. Das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung wird als das Recht verstanden, selbst darüber zu entscheiden, unter den gegebenen Umständen von einem anderen in ein sexualbezogenes Geschehen involviert zu werden (BAG v. 29.6.2017 – 2 AZR 302/16, Rn 18; Köhler/Koops, BB 2015, 2807, 2808). Das schließt es ein, selbst über einen Eingriff in die Intimsphäre durch körperlichen Kontakt zu bestimmen. Die absichtliche Berührung primärer oder sekundärer Geschlechtsmerkmale eines anderen ist demnach bereits deshalb sexuell bestimmt i.S.d. § 3 Abs. 4 AGG, weil es sich um einen auf die körperliche Intimsphäre gerichteten Übergriff handelt (vgl. BAG v. 29.6.2017 – 2 AZR 302/16, Rn 18; BAG v. 2.3.2017 – 2 AZR 698/15, Rn 36; BAG v. 20.11.2014 – 2 AZR 651/13, Rn 18).
Rz. 542
Daneben können aber auch ambivalente Handlungen, d.h. Verhaltensweisen, die das Geschlechtliche im Menschen nicht unmittelbar zum Gegenstand haben, wie bspw. Umarmungen, sexuell bestimmt sein (BAG v. 29.6.2017 – 2 AZR 302/16, Rn 18; BAG v. 2.3.2017 – 2 AZR 698/15, Rn 36). Ob eine Sexualbezogenheit vorliegt, ist insoweit nach dem Eindruck eines objektiven Betrachters, der alle Umstände kennt, zu beurteilen (BAG v. 2.3.2017 – 2 AZR 698/15, Rn 36; ErfK/Schlachter, § 3 AGG Rn 21). Bei solchen (ambivalenten) Handlungen kann auch zu berücksichtigen sein, ob der Handelnde von sexuellen Absichten geleitet war (BAG v. 2.3.2017 – 2 AZR 698/15, Rn 36; BGH v. 21.9.2016 – 2 StR 558/15, Rn 12). Ob eine Handlung sexuell bestimmt i.S.d. § 3 Abs. 4 AGG ist, hängt allerdings nicht allein vom subjektiv erstrebten Ziel des Handelnden ab (BAG v. 29.6.2017 – 2 AZR 302/16, Rn 19). Erforderlich ist zudem nicht notwendigerweise ein sexueller Beweggrund des Täters (BAG v. 29.6.2017 – 2 AZR 302/16, Rn 20). Eine sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz ist vielmehr häufig Ausdruck von Hierarchien und Machtausübung und weniger von sexuell bestimmter Lust (BAG v. 29.6.2017 – 2 AZR 302/16, Rn 19, Köhler/Koops, BB 2015, 2807, 2809). Das jeweilige Verhalten muss bewirken oder bezwecken, dass die Würde der betreffenden Person verletzt wird. Relevant ist entweder das Ergebnis oder die Absicht. Für das "Bewirken" genügt der bloße Eintritt der Belästigung (BAG v. 29.6.2017 – 2 AZR 302/16, Rn 20). Gegenteilige Absichten oder Vorstellungen der für dieses Ergebnis aufgrund ihres Verhaltens objektiv verantwortlichen Person spielen keine Rolle. Ebenso kommt es auf vorsätzliches Verhalten nicht an (BAG v. 29.6.2017 – 2 AZR 302/16, Rn 20; BAG v. 9.6.2011 – 2 AZR 323/10, Rn 19). Das Tatbestandsmerkmal der Unerwünschtheit erfordert nicht, dass der Betroffene seine ablehnende Einstellung zu den fraglichen Verhaltensweisen aktiv verdeutlicht hat (BAG v. 29.6.2017 – 2 AZR 302/16, Rn 21). Maßgeblich ist allein, ob die Unerwünschtheit der Verhaltensweise objektiv erkennbar war (BAG v. 29.6.2017 – 2 AZR 302/16, Rn 20; BAG v. 9.6 2011 – 2 AZR 323/10, Rn 19).
Rz. 543
Nach § 12 Abs. 3 AGG ist der Arbeitgeber verpflichtet, geeignete, erforderliche und angemessene Maßnahmen zur Unterb...