Dr. iur. Berthold Hilderink, Prof. Dr. Martin Becker
Rz. 224
Alkoholabhängigkeit ist eine Krankheit im medizinischen Sinne (BSG v. 18.6.1968 – 3 RK 63/66, BSGE 28, 114; BSG v. 15.2.1978 – 3 RK 29/77, BSGE 46, 41). Sie liegt vor, wenn der gewohnheitsmäßige, übermäßige Alkoholgenuss trotz besserer Einsicht nicht aufgegeben oder reduziert werden kann. Merkmal der Erkrankung ist dementsprechend die physische oder psychische Alkoholabhängigkeit. Sie äußert sich im Verlust der Selbstkontrolle über den Alkoholkonsum und in der Unfähigkeit zur Abstinenz (BAG v. 1.6.1983 – 5 AZR 536/80, NJW 1983, 2695 = BB 1984, 339 = DB 1983, 2420).
aa) Abgrenzung zur verhaltensbedingten Kündigung
Rz. 225
Soll einem Arbeitnehmer wegen Alkoholkonsums gekündigt werden, ist zunächst zu prüfen, ob der Alkoholkonsum Krankheitswert hat, ob also – im medizinisch-psychischen Sinne – Alkoholismus/krankhafte Trunksucht vorliegt oder ob ihm eine willentliche, noch steuerbare Entscheidung des Arbeitnehmers zugrunde liegt. Diese Klärung entscheidet darüber, ob die Grundsätze der krankheitsbedingten oder die der verhaltensbedingten Kündigung Anwendung finden (BAG v. 16.9.1999 – 2 AZR 123/99, NZA 2000, 141; Bengelsdorf, NZA 2001, 993; Gottwald, NZA 1999, 180; Künzl, NZA 1999, 744; Bengelsdorf, NZA 1999, 1304, 1308).
Rz. 226
Eine verhaltensbedingte Kündigung wegen Pflichtverletzungen, die auf Alkoholabhängigkeit beruhen, ist i.d.R. schon mangels Verschuldens des Arbeitnehmers sozial nicht gerechtfertigt (BAG v. 9.4.1987 – 2 AZR 210/86, NZA 1987, 811). Kündigt der Arbeitgeber bspw. wegen unentschuldigten Fehlens des Arbeitnehmers nach vorangegangener einschlägiger Abmahnung und beruft sich der Arbeitnehmer im Kündigungsschutzprozess darauf, Ursache des Fehlens sei seine fehlende Steuerungsfähigkeit wegen – unstreitig bestehender – Alkoholsucht, ist die verhaltensbedingte Kündigung wegen fehlenden Verschuldens unwirksam, sofern es dem Arbeitgeber nicht gelingt, nachzuweisen, dass der Grund für das unentschuldigte Fehlen nicht auf die Alkoholsucht zurückzuführen ist (LAG Hamm v. 15.1.1999 – 10 Sa 1235/98, NZA 1999, 1221).
Rz. 227
Etwas anderes könnte allenfalls dann gelten – und sich dann auch negativ auf die Entgeltfortzahlungsansprüche des Arbeitnehmers auswirken, welche den schuldlosen Eintritt von Krankheit und Arbeitsunfähigkeit voraussetzen (§ 3 Abs. 1 EFZG) –, wenn der Arbeitnehmer gerade seine Alkoholabhängigkeit schuldhaft herbeigeführt hat. Hierfür trägt jedoch der Arbeitgeber die Darlegungs- und Beweislast. Da er allerdings kaum in der Lage sein dürfte, diese Umstände, die aus dem Lebensbereich des Arbeitnehmers stammen, im Einzelnen vorzutragen, muss der Arbeitnehmer auf Verlangen des Arbeitgebers nach bestem Wissen die fraglichen Umstände offenbaren (BAG v. 1.6.1983 – 5 AZR 536/80, NJW 1983, 2695; bei Rückfall nach Langzeittherapie vgl. BAG v. 11.11.1987 – 5 AZR 497/86, NZA 1988, 197 = BB 1988, 407 = DB 1988, 402, dazu krit. LAG Frankfurt am Main v. 6.2.1991, ARST 3/93, Nr. 17, S. 41; BAG v. 9.4.1987 – 2 AZR 210/86, NZA 1987, 811).
Rz. 228
Die Entscheidung des Arbeitnehmers, nach einer erfolgreichen Entziehungskur die zunächst aufgenommenen Besuche in einer Selbsthilfegruppe von anonymen Alkoholikern abzubrechen, weil er sich dadurch überfordert fühle, gehört zum privaten Lebensbereich. Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis werden dadurch nicht verletzt. Selbst wenn der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber, der solche Besuche verlangt, vortäuscht, er setze sie fort, rechtfertigt dies keine ordentliche verhaltensbedingte Kündigung (LAG Düsseldorf v. 25.2.1997 – 8 Sa 1673/96, n.v.; zu dem rechtlichen Ansatz, eine verhaltensbedingte Kündigung auch von Alkoholabhängigen dadurch zu ermöglichen, dass eine nebenvertragliche Pflicht zur Durchführung einer Alkoholtherapie angenommen wird, deren Verletzung nach Abmahnung zur – verhaltensbedingten – Kündigung berechtige vgl. Gottwald, NZA 1997, 635 f.; dazu krit. Künzl, NZA 1998, 122 ff.).
Rz. 229
Steht fest, dass der Alkoholgenuss auf krankhafter Sucht beruht, so ist die soziale Berechtigung einer darauf beruhenden Kündigung wie die einer krankheitsbedingten Kündigung zu prüfen.
bb) Milderes Mittel
Rz. 230
Als milderes Mittel kommt eine Versetzung in Betracht (BAG v. 20.3.2014 – 2 AZR 565/12, Rn 15). Der Arbeitgeber ist nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zudem verpflichtet, dem Arbeitnehmer zunächst die Durchführung einer Entziehungskur zu ermöglichen (BAG v. 17.6.1999 – 2 AZR 639/98, EzA § 1 KSchG Wiedereinstellungsanspruch Rn 4). Die notwendige negative Gesundheitsprognose lässt sich i.d.R. auch nur dann treffen, wenn der Arbeitnehmer nicht therapiebereit war (vgl. BAG v. 9.4.1987– 2 AZR 210/86, AP Nr. 18 zu § 1 KSchG 1969 Krankheit) oder eine bereits durchgeführte Therapie nicht zum Erfolg geführt hat (vgl. LAG Hamm v. 2.5.1986 – 16 Sa 1987/85, LAGE § 1 KSchG, personenbedingte Kündigung Rn 4). Hat allerdings der Arbeitnehmer seinen Arbeitgeber im Rahmen von sog. Fehlzeitengesprächen, welche der Kündigung vorangegangen sind, nicht über seine Alkoholerkrankung informiert und hatte der Arbeitgeber auch sonst keine Kenntnis von d...