Dr. iur. Berthold Hilderink, Prof. Dr. Martin Becker
Rz. 854
Für das Eingreifen der nach der Betriebsgröße gestaffelten Anzeigepflicht kommt es auf die Zahl der "in der Regel" beschäftigten Arbeitnehmer an. Bei der Ermittlung dieser Zahl ist auf den Zeitpunkt der Entlassung, d.h. auf den Zeitpunkt des Zuganges der schriftlichen Kündigungserklärung (s. § 29 Rdn 40 ff.) abzustellen (vgl. BAG v. 24.2.2005 – 2 AZR 207/04, NZA 2005, 766; BAG v. 13.6.2019 – 6 AZR 459/18, BB 2019, 2554 = NZA 2019, 1638). Auch unter dieser geänderten Prämisse gilt: Maßgeblich ist nicht die tatsächliche Beschäftigtenzahl zu diesem Zeitpunkt, sondern die normale Beschäftigtenzahl des Betriebes, d.h. diejenige Personalstärke, die für den Betrieb im Allgemeinen kennzeichnend ist (BAG v. 31.7.1986, DB 1987, 1592 = NZA 1987, 587; BAG v. 24.2.2005, NZA 2005, 766 = DB 2005, 1576). Zur Feststellung der regelmäßigen Beschäftigtenzahl bedarf es grds. eines Rückblickes auf die bisherige personelle Stärke des Betriebes und einer Einschätzung der künftigen Entwicklung. Im Fall einer Betriebsstilllegung kommt jedoch nur ein Rückblick auf die bisherige Belegschaftsstärke infrage. Maßgebend ist der im Zeitpunkt des Stilllegungsbeschlusses vorhandene Personalbestand (ausführlich hierzu BAG v. 8.6.1989 – 2 AZR 624/88, DB 1990, 183 = NZA 1990, 224; vgl. auch BAG v. 13.4.2000, NZA 2001, 144 = BB 2000, 2264). Auch wenn dies von der Instanzrechtsprechung bisweilen in Zweifel gezogen wurde, kommt es für den für § 17 Abs. 1 S. 1 KSchG maßgeblichen Zeiptunkt nicht etwa darauf an, wann der Arbeitgeber sich zur Kündigung entschließt oder die Kündigungsschreiben abzeichnet, sondern es ist allein der Zeitpunkt des Zugangs der schriftlichen Kündigung beim Arbeitnehmer maßgeblich, sodass die Massenentlassung bis dahin angezeigt werden muss (BAG v. 13.6.2019 – 6 AZR 459/18, BB 2019, 2554 = NZA 2019, 1638).
Rz. 855
Bei der Ermittlung der regelmäßigen Beschäftigtenzahl wie auch bei der Feststellung der Zahl der zu Entlassenden sind jeweils nur die Arbeitnehmer des Betriebes zu berücksichtigen. Maßgeblich ist insoweit der weite unionsrechtliche Arbeitnehmerbegriff. Dieser ist nach der Rechtsprechung des EuGH anhand objektiver Kriterien zu definieren, die das Arbeitsverhältnis im Hinblick auf die Rechte und Pflichten der Betroffenen kennzeichnen. Wesentliches Merkmal ist, dass eine Person während einer bestimmten Zeit für eine andere nach deren Weisung Leistungen erbringt, für die sie als Gegenleistung eine Vergütung erhält (EuGH v. 9.7.2015 – C-229/14 – NZA 2015, 861). Nach Auffassung des EuGH ist daher auch der Fremdgeschäftsführer einer Kapitalgesellschaft als Arbeitnehmer i.S.d. § 17 Abs. 1 KSchG anzusehen (EuGH v. 9.7.2015 – C-229/14 – NZA 2015, 861), wenn er jederzeit gegen seinen Willen von seinem Amt abberufen werden kann, bei der Ausübung seiner Tätigkeit der Weisung und Aufsicht eines anderen Organs der Gesellschaft unterliegt und keine Anteile an der Gesellschaft besitzt.
Rz. 856
Darüber hinaus zählen alle Arbeitnehmer – wegen der Begriffsbestimmung wird ergänzend auf § 16 Rdn 78 ff. verwiesen – mit, also auch Angestellte in leitenden Positionen, Auszubildende, Volontäre und mitarbeitende Familienangehörige, die diese Mitarbeit im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses leisten, ohne dass es etwa auf die Erfüllung einer Wartezeit ankommt, wie sie für das Einsetzen des allgemeinen Kündigungsschutzes zurückgelegt werden muss. Auch Praktikanten sind mitzuzählen, sofern das Praktikum nicht Bestandteil schulischer Ausbildung ist. Ohne Bedeutung ist dabei, ob das Praktikum durch den Arbeitgeber vergütet wird oder mit Finanzierung der staatlichen Arbeitsmarktförderung durchgeführt wird (EuGH v. 9.7.2015 – C-229/14 – NZA 2015, 861). Arbeitnehmerähnliche Personen, Handelsvertreter und Heimarbeiter zählen nicht mit. Auch Arbeitnehmer in Altersteilzeit zählen nicht mit, sofern für die Altersteilzeit ein Blockzeitmodell vereinbart wurde und die Arbeitnehmer sich bereits in der Freistellungsphase befinden (KR/Weigand, § 17 KSchG Rn 44).
Die Frage der Berücksichtigung von Leiharbeitnehmern beim Schwellenwert des § 17 Abs. 1 KSchG hat das BAG mit Beschl. v. 16.11.2017 – 2 AZR 90/17 – dem EuGH vorgelegt. Eine Entscheidung ist zum derzeitigen Zeitpunkt noch nicht abzusehen. Nach Auffassung der Vorinstanz, des LAG Düsseldorf, sind Leiharbeitnehmer beim Massenentlassungsschwellenwert nicht zu berücksichtigen (LAG Düsseldorf v. 8.9.2016, AuR 2017, 227).
Rz. 857
Jeder Teilzeitbeschäftigte zählt ohne Rücksicht auf das von ihm zu leistende Arbeitszeitvolumen als ein Arbeitnehmer. Der Berechnungsschlüssel für TzA in anderen Vorschriften, wie z.B. in den §§ 23 Abs. 1 S. 4 KSchG, 622 Abs. 5 S. 2 BGB ist für die Feststellung der nach § 17 Abs. 1 KSchG maßgeblichen Zahlen nicht von Bedeutung.