Dr. iur. Berthold Hilderink, Prof. Dr. Martin Becker
Rz. 208
Die prognostizierten Fehlzeiten sind nur dann geeignet, eine krankheitsbedingte Kündigung zu rechtfertigen, wenn sie auch zu einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen führen (BAG v. 23.1.2014 – 2 AZR 582/13, Rn 27). Dabei können neben Betriebsablaufstörungen auch wirtschaftliche Belastungen, etwa durch zu erwartende, einen Zeitraum von mehr als sechs Wochen pro Jahr übersteigende Entgeltfortzahlungskosten (BAG v. 23.1.2014 – 2 AZR 582/13, Rn 27) oder etwaige, mit zusätzlichen Kosten verbundene Maßnahmen zur Überbrückung des Produktionsausfalles zu einer solchen Beeinträchtigung führen (BAG v. 16.2.1989 – 2 AZR 299/88, AP Nr. 20 zu § 1 KSchG 1969 Krankheit).
Rz. 209
Dies ist bspw. der Fall, wenn die Ausfallzeiten des Arbeitnehmers zu einem Stillstand von Maschinen führen, wenn regelmäßig vorübergehend Aushilfsarbeitskräfte eingestellt werden müssen oder bspw. der Betriebsfrieden infolge sich ständig wiederholender Vertretungsaufgaben gestört wird (BAG v. 16.2.1989 – 2 AZR 299/88, AP Nr. 20 zu § 1 KSchG 1969 Krankheit).
Rz. 210
Der Arbeitgeber muss diese Störungen konkret darlegen und beweisen. Schlagwortartige und pauschale Behauptungen, wie z.B. "dauernde Vertretung" oder "ständiger Produktionsausfall" genügen für sich allein genommen nicht (BAG v. 2.11.1983 – 2 AZR 272/82, AP Nr. 12 zu § 1 KSchG 1969 Krankheit). Ferner muss der Arbeitgeber darlegen, dass eine etwaige von ihm vorgehaltene Personalreserve nicht dazu in der Lage ist, die für die Zukunft prognostizierten Fehlzeiten des gekündigten Arbeitnehmers auszugleichen (BAG v. 7.12.1989 – 2 AZR 225/89, RzK I 5 g 34). Allerdings ist der Arbeitgeber nicht verpflichtet, überhaupt eine Personalreserve vorzuhalten (BAG v. 17.5.2017 – 7 AZR 420/15, Rn 31; EuGH v. 14.9 2016 – C-16/15 – [Pérez López] Rn 55 f.; EuGH v. 26.1.2012 – C-586/10 – [Kücük] Rn 54; BAG v. 24.8 2016 – 7 AZR 41/15, Rn 26; BAG v. 13.2.2013 – 7 AZR 225/11, Rn 33; BAG v. 18.7. 2012 – 7 AZR 443/09, Rn 15, BAGE 142, 308; BAG v. 29.7.1993 – 2 AZR 155/93, NZA 1994, 67).
Rz. 211
Wirtschaftliche Beeinträchtigungen können insb. aus den Mehrkosten für den Einsatz von Aushilfskräften sowie den zu erwartenden Entgeltfortzahlungskosten resultieren. Letztere sind aber erst dann kündigungsrelevant, wenn sie für mehr als sechs Wochen im Jahr zu leisten sind (BAG v. 16.2.1989 – 2 AZR 299/88, AP Nr. 20 zu § 1 KSchG 1969 Krankheit; BAG v. 20.1.2000 – 2 AZR 378/99, NZA 2000, 768). Der Arbeitgeber ist nach § 3 EFZG verpflichtet, grds. Entgeltfortzahlungskosten für bis zu sechs Wochen im Jahr zu leisten.
Rz. 212
Tarifliche Zuschüsse zum Krankengeld sind ohne das Hinzutreten weiterer Anhaltspunkte indes "kündigungsneutral" (BAG v. 25.4.2018 – 2 AZR 6/18, Rn 29). Einerseits lässt sich allein aus einer tariflichen Verpflichtung des Arbeitgebers, im Krankheitsfall über die Vorgaben von § 3 Abs. 1 EFZG hinaus für bestimmte Zeiträume einen Zuschuss zum Krankengeld zu zahlen, nicht folgern, selbst sechs Wochen im Jahr übersteigende krankheitsbedingte Ausfallzeiten des Arbeitnehmers sollten – ggf. mit Auswirkungen auch auf die Anforderungen an eine außerordentliche Kündigung mit Auslauffrist – grundsätzlich ungeeignet sein, eine ordentliche Kündigung zu rechtfertigen (BAG v. 25.4.2018 – 2 AZR 6/18, Rn 30). Durch die Zusage solcher Leistungen wollen die Tarifvertragsparteien regelmäßig nicht den Bestandsschutz der Arbeitnehmer erhöhen (BAG v. 25.4.2018 – 2 AZR 6/18, Rn 29; BAG v. 6.9.1989 – 2 AZR 224/89, zu III 2 c der Gründe). Andererseits kann die zu erwartende Belastung des Arbeitgebers mit tariflichen Zuschüssen zum Krankengeld grundsätzlich nicht als "kündigungsbegründende" Beeinträchtigung der wirtschaftlichen Interessen des Arbeitgebers anerkannt werden (BAG v. 25.4.2018 – 2 AZR 6/18, Rn 31; offengelassen von BAG v. 21.5.1992 – 2 AZR 399/91, zu III 3 der Gründe; BAG v. 6.9.1989 – 2 AZR 224/89, zu III 2 c bb der Gründe). Mit der Zusage derartiger Zuschüsse übernehmen die Arbeitgeber ein Risiko, welches nach dem Gesetz den Arbeitnehmern zugewiesen ist. Verwirklicht es sich, soll dies – in finanzieller Hinsicht – allein zu ihren Lasten gehen, aber regelmäßig nicht den Bestandsschutz der Arbeitnehmer mindern (BAG v. 25.4.2018 – 2 AZR 6/18, Rn 31).
Rz. 213
Bei einem tarifvertraglich ordentlich unkündbaren Arbeitsverhältnis kann allein die zu erwartende Belastung des Arbeitgebers mit Entgeltfortzahlungskosten, die durchschnittlich für mehr als ein Drittel der Arbeitstage pro Jahr aufzuwenden sein werden, einen wichtigen Grund zur außerordentlichen Kündigung bilden (BAG v. 25.4.2018 – 2 AZR 6/18, Rn 34). Einen Rechtssatz des Inhalts, ein wichtiger Grund könne nicht vorliegen, sofern der Arbeitnehmer voraussichtlich noch zu (deutlich) mehr als der Hälfte seiner Arbeitszeit zur Verfügung stehen wird, gibt es nicht (BAG v. 25.4.2018 – 2 AZR 6/18, Rn 34). Vielmehr ist der Umfang der verwertbaren "Restarbeitszeit" des Arbeitnehmers lediglich einer von vielen Faktoren, die bei der abschließenden Interessenab...