Dr. iur. Berthold Hilderink, Prof. Dr. Martin Becker
Rz. 240
Wie jede andere Krankheit kann auch AIDS eine personenbedingte Kündigung wegen lang andauernder Erkrankung oder häufiger Kurzerkrankungen rechtfertigen (Richardi, NZA 1988, 79; Lepke, RdA 2000, 89; v. Hoyningen-Huene/Linck, § 1 KSchG Rn 292). Ist die eigentliche AIDS-Erkrankung bereits ausgebrochen, kommt eine personenbedingte Kündigung in Betracht, deren Rechtswirksamkeit nach den Umständen des Einzelfalles entsprechend den Grundsätzen für lang andauernde Krankheiten oder häufige Kurzerkrankungen zu beurteilen ist (KR/Griebeling, § 1 KSchG Rn 280).
Rz. 241
Ist der Arbeitnehmer hingegen mit dem HI-Virus infiziert, ohne dass die eigentliche Krankheit bereits ausgebrochen ist, rechtfertigt dies grds. noch keine personenbedingte Kündigung (Berkoswky, NZA-RR 2001, 403; APS/Dörner, § 1 KSchG Rn 224). Birgt jedoch die arbeitsvertraglich geschuldete Tätigkeit des Arbeitnehmers die Gefahr, dass Arbeitskollegen oder Dritte durch den Arbeitnehmer mit dem HI-Virus infiziert werden, bspw. bei einer medizinischen oder pflegerischen Tätigkeit in einem Krankenhaus, besteht wegen der Gefährdung dieser Personengruppen ein personenbedingter Kündigungsgrund, der nach den allgemeinen für krankheitsbedingte Kündigungen geltenden Grundsätzen eine Kündigung sozial rechtfertigen kann (ErfK/Oetker, § 1 KSchG Rn 152; v. Hoyningen-Huene/Linck, § 1 KSchG Rn 292; APS/Dörner, § 1 KSchG Rn 224). Allerdings muss der Arbeitgeber zunächst prüfen, ob er die Gefährdung der anderen Arbeitnehmer oder Dritter durch entsprechende Schutzmaßnahmen oder durch den Einsatz des infizierten Arbeitnehmers auf einem anderen Arbeitsplatz vermeiden kann (Richardi, NZA 1988, 73, 78; ErfK/Oetker, § 1 KSchG Rn 152).
Rz. 242
Gilt das KSchG für die arbeitsvertraglichen Beziehungen der Parteien (noch) nicht, so stellt sich die Frage, ob eine auf die HIV-Infektion eines Arbeitnehmers gestützte Kündigung, sitten- oder treuwidrig nach § 138 Abs. 1 BGB bzw. § 242 BGB ist. Das BAG hat festgestellt, eine entsprechende Kündigung sei jedenfalls dann nicht sittenwidrig und verstoße auch nicht gegen das Maßregelungsverbot des § 612a BGB, wenn der Arbeitnehmer nach Kenntnis von der Infektion einen Selbsttötungsversuch unternommen hatte, danach nahezu drei Monate arbeitsunfähig krank war, dieser Zustand nach einem vor Ausspruch der Kündigung vorgelegten ärztlichen Attest bis auf Weiteres fortbestehen sollte und diese Umstände für den Kündigungsentschluss des Arbeitgebers jedenfalls mitbestimmend waren (BAG v. 16.2.1989 – 2 AZR 347/88, NZA 1989, 962).
Rz. 243
Erlangt die Belegschaft eines Betriebes davon Kenntnis, dass ein Kollege mit dem HI-Virus infiziert ist und will sie deshalb die Entlassung des infizierten Arbeitnehmers erzwingen – sog. Druckkündigung – (zur Druckkündigung vgl. auch § 29 Rdn 211), ist zu beachten, dass die AIDS-Infektion als solche kündigungsrechtlich regelmäßig irrelevant ist und als objektiv anerkennenswertes Motiv für den Druck der Belegschaft nicht gegeben ist (APS/Dörner, § 1 KSchG Rn 227). Nach den allgemeinen Grundsätzen, die für eine Druckkündigung gelten, muss der Arbeitgeber daher zunächst alle geeigneten Mittel ergreifen, die den Druck entschärfen und eine Kündigung vermeiden (v. Hoyningen-Huene/Linck, § 1 KSchG Rn 282; APS//Dörner, § 1 KSchG Rn 227). Insb. muss der Arbeitgeber sich um eine intensive Aufklärung der Belegschaft über das ggf. fehlende Ansteckungsrisiko bemühen und entweder den infizierten Arbeitnehmer oder diejenigen Arbeitnehmer, die den Druck ausüben, ver- oder umsetzen. Folgerichtig hat das ArbG Berlin (v. 16.6.1987 – 24 Ca 319/86, NZA 1987, 637) entschieden, dass eine auf eine HIV-Infektion gestützte Druckkündigung auf Verlangen der Belegschaft nur gerechtfertigt ist, wenn das Verlangen nach Kündigung durch das Verhalten oder die Person des betreffenden Arbeitnehmers objektiv begründet sei. Dies sei dann nicht der Fall, wenn die Reaktion der Belegschaft auf Unkenntnis über das Problem einer AIDS-Erkrankung beruhe. I.Ü. könne sich der Arbeitgeber dann nicht auf das Belegschaftsverlangen zur Kündigung berufen, wenn er selbst schuldhaft die Reaktion der übrigen Arbeitnehmer hervorgerufen haben (zur Problematik vgl. auch die Beiträge von Koch und Eich in Beil. Nr. 2/87 zu NZA 1987, Heft 12; Richardi, NZA 1988, 73, 78 f.; Löwisch, DB 1987, 936; Haesen, RdA 1988, 158).