Dr. iur. Berthold Hilderink, Prof. Dr. Martin Becker
I. Gesetzeszweck und Bedeutungsaustausch des Entlassungsbegriffs
Rz. 847
Wer als Arbeitgeber in seinem Betrieb in größerem Umfang – aus welchen Gründen auch immer – Personal abbauen muss, sollte mit den Vorschriften des dritten Abschnittes des KSchG bestens vertraut sein. Die Kenntnis der §§ 17–22 KSchG über "anzeigepflichtige Entlassungen" ist elementar. Eine nicht oder nicht ordnungsgemäß erstattete Anzeige von Massenentlassungen führt ebenso zur Unwirksamkeit der in diesem Zusammenhang ausgesprochenen Kündigungen wie Fehler bei der Durchführung des Konsultationsverfahrens mit dem Betriebsrat nach § 17 Abs. 2 BetrVG (vgl. BAG v. 21.3.2013 – 2 AZR 60/12, NZA 2013, 966).
Rz. 848
Die Vorschriften über "anzeigepflichtige Entlassungen" haben durch die Junk-Entscheidung des EuGH v. 27.1.2005 (C 188/03, NZA 2005, 213 = DB 2005, 453) ihr Schattendasein verloren und eine erhebliche praktische Bedeutung erhalten. Das BAG hatte in st. Rspr. Unter Entlassung i.S.d. §§ 17 ff. KSchG nicht schon die Kündigung, sondern die mit ihr beabsichtigte tatsächliche Beendigung des Arbeitsverhältnisses verstanden (BAG v. 13.4.2000 – 2 AZR 215/99, NZA 2001, 144). Gegenüber diesem tradierten, auf den Beendigungszeitpunkt abstellenden Verständnis des Entlassungsbegriffes, legt der EuGH seit der zuvor zitierten Junk-Entscheidung, die Art. 2–4 der RL 98/59/EG des Rates vom 20.7.1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen dahin aus, dass die Kündigungserklärung des Arbeitgebers das Ereignis ist, das als Entlassung gilt. Das BAG ist dieser Rechtsauffassung gefolgt und versteht unter "Entlassung" i.S.d. §§ 17 ff. KSchG nunmehr ebenfalls die Erklärung der Kündigung selbst (BAG v. 23.3.2006 – 2 AZR 343/05, NZA 2006, 971 = DB 2006, 1902; BAG v. 13.7.2006, NZA 2007, 25 = DB 2006, 2820; BAG v. 22.3.2007, NZA 2007, 1101 = DB 2007, 1596 L).
Rz. 849
Zu Recht hat das BAG den Arbeitgebern, die Massenentlassungsanzeigen nach der bisherigen Rechtslage, d.h. bezogen auf den Zeitpunkt der durch die Kündigung bewirkten tatsächlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses, abgegeben haben, für eine Übergangszeit Vertrauensschutz zugebilligt (BAG v. 23.3.2006 – 2 AZR 343/05, NZA 2006, 971 = DB 2006, 1902; BAG v. 13.7.2006, NZA 2007, 25 = DB 2006, 2820; BAG v. 22.3.2007, NZA 2007, 1101 = DB 2007, 1596 L). Das Vertrauen auf die bisherige Rechtslage ist allerdings nur bis zur Bekanntmachung der im Anschluss an das Urteil des EuGH v. 27.1.2005 geänderten Rechtsauffassung der Arbeitsverwaltung als schützenswert angesehen worden (BAG v. 13.7.2006 – 6 AZR 198/06, NZA 2007, 25 = DB 2006, 2820; BAG v. 22.3.2007, NZA 2007, 1101 = DB 2007, 1596 L). Nachdem die BA der Rspr. des EuGH folgend ihre DA im Juli 2005 richtlinienkonform dahin geändert hat, dass sich fortan die Anzeigepflicht auf den Kündigungszeitpunkt bezieht, und ein entsprechendes "Merkblatt 5, Stand Juli 2005" aufgelegt hat, dürfte spätestens seitdem das Vertrauen auf die bisherige Handhabe der Massenentlassungsanzeige nicht mehr schützenswert sein (vgl. Ascheid/Preis/Schmidt/Moll, § 17 KSchG Rn 129).
II. Begriff der Massenentlassung
1. Verhältnis von Betriebsgröße und Entlassungen innerhalb von 30 Kalendertagen
Rz. 850
In § 17 Abs. 1 KSchG ist festgelegt, unter welchen Voraussetzungen überhaupt "Massenentlassungen" vorliegen, die den Arbeitgeber vor ihrer Durchführung, d.h. vor Ausspruch der Kündigungen, verpflichten, der Agentur für Arbeit Anzeige davon zu erstatten und den in diesem Abschnitt des KSchG geregelten "Massenentlassungsschutz" begründen. Der ursprünglich primär arbeitsmarktpolitischen Zielen dienende "besondere Kündigungsschutz" ist inzwischen auch als individualrechtlicher, zusätzlicher Schutz vor Kündigungen anerkannt. Nach der in § 17 Abs. 1 KSchG vorgesehenen gesetzlichen Staffelung ist der Arbeitgeber verpflichtet, der Agentur für Arbeit Anzeige zu erstatten, bevor er
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in Betrieben mit i.d.R. mehr als 20 und weniger als 60 Arbeitnehmern mehr als fünf Arbeitnehmer, |
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in Betrieben mit i.d.R. mindestens 60 und weniger als 500 Arbeitnehmern 10 % der regelmäßig Beschäftigten oder aber mehr als 25 Arbeitnehmer, |
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in Betrieben mit i.d.R. mindestens 500 Arbeitnehmern mindestens 30 Arbeitnehmer |
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innerhalb von 30 Kalendertagen entlässt. |
2. Einzelne Voraussetzungen des Massenentlassungsschutzes
a) Betrieb als Anknüpfungspunkt
Rz. 851
Bei der Prüfung, ob beabsichtigte Kündigungen zur Anzeigepflicht nach § 17 Abs. 1 KSchG führen, ist nach der gesetzlichen Vorgabe auf die Organisationseinheit Betrieb abzustellen. Das BAG hat seine Auffassung, dass sich der Betriebsbegriff i.S.d. § 17 Abs. 1 KSchG an dem der §§ 1, 4 BetrVG orientiert (zuletzt BAG v. 26.1.2017 – 6 AZR 442/16, NZA 2017, 577), inzwischen aufgegeben (BAG v. 13.3.2020 – 6 AZR 146/19, NZA 2020, 1006). Es handelt sich insofern um einen eigenständigen europarechtlichen Betriebsegriff, der streng von dem des KSchG und des BetrVG zu trennen ist. "Betrieb" i.S.d. MERL ist die Einheit, der die von der Entlassung betroffenen Arbeitnehmer zur Erfüllung ihrer Aufgaben angehören. Dabei muss es sich um eine unterscheidbare Einheit von einer gewissen Dauerhaftigkeit und Stabilität handeln, die zur Erledigung einer oder mehrerer Aufgaben bestimmt ist und üb...