Dr. iur. Berthold Hilderink, Prof. Dr. Martin Becker
Rz. 669
Eine als Kündigungsgrund angeführte Drucksituation ist zunächst nach ihrer Hauptstörquelle zu untersuchen und als verhaltens-, personen- oder betriebsbedingter Kündigungsgrund zu prüfen (BAG v. 19.6.1986, BB 1986, 2271 = DB 1986, 2498; BAG v. 31.1.1996, DB 1996, 990 = NZA 1996, 581; vgl. zur Druckkündigung auch Rdn 501 f. und § 29 Rdn 211). Ist eine Druckkündigung nicht aus verhaltens- oder personenbedingten Gründen gerechtfertigt, kann sie in seltenen Ausnahmefällen in Gestalt einer betriebsbedingten Kündigung als sog. "echte Druckkündigung" gerechtfertigt sein (BAG v. 18.7.2013 – 6 AZR 420/12, Rn 39; BAG v. 18.9.1975, EzA § 626 BGB Druckkündigung Nr. 1; BAG v. 19.6.1986, EzA § 1 KSchG Betriebsbedingte Kündigung Nr. 39; BAG v. 31.1.1996, EzA § 626 BGB Druckkündigung Nr. 3).
Rz. 670
An die Zulässigkeit einer "echten" betriebsbedingten Druckkündigung sind strenge Anforderungen zu stellen (BAG v. 15.12.2016 – 2 AZR 431/156, Rn 11; BAG v. 18.7.2013 – 6 AZR 420/12, Rn 39). Verlangt die Belegschaft oder ein Teil der Belegschaft die Entlassung eines Arbeitnehmers, darf der Arbeitgeber dieser Forderung nicht ohne Weiteres nachgeben (BAG v. 15.12.2016 – 2 AZR 431/156, Rn 11). Er hat sich aufgrund seiner arbeitsvertraglichen Fürsorgepflicht schützend vor den betroffenen Arbeitnehmer zu stellen und alles Zumutbare zu versuchen, um die Belegschaft von ihrer Drohung abzubringen (BAG v. 15.12.2016 – 2 AZR 431/156, Rn 11; BAG v. 19.7.2016 – 2 AZR 637/15, Rn 28; BAG v. 18.7.2013 – 6 AZR 420/12, Rn 39). Diese Pflicht verlangt vom Arbeitgeber ein aktives Handeln, das darauf gerichtet ist, den Druck abzuwehren (BAG v. 15.12.2016 – 2 AZR 431/156, Rn 11; BAG v. 19.7.2016 – 2 AZR 637/15, Rn 38). Nur wenn daraufhin trotzdem ein Verhalten in Aussicht gestellt wird, z.B. Streik oder Massenkündigung oder die Androhung des Abbruchs von Geschäftsbeziehungen, und dadurch schwere wirtschaftliche Schäden für den Arbeitgeber drohen, kann die Kündigung gerechtfertigt sein (BAG v. 18.7.2013 – 6 AZR 420/12, Rn 39). Dabei ist jedoch Voraussetzung, dass die Kündigung das einzige in Betracht kommende Mittel ist, um die Schäden abzuwenden (BAG v. 15.12.2016 – 2 AZR 431/156, Rn 11; BAG v. 19.7.2016 – 2 AZR 637/15, Rn 38; BAG v. 18.7.2013 – 6 AZR 420/12, Rn 39; BAG v. 31.1.1996 – 2 AZR 158/95, NZA 1996, 581; BAG v. 17.1.1996, NZA 1996, 1100; BAG v. 19.6.1986, EzA § 1 KSchG Betriebsbedingte Kündigung Nr. 39, m.w.N.). Zu berücksichtigen ist hierbei auch, inwieweit der Arbeitgeber die Drucksituation selbst in vorwerfbarer Weise herbeigeführt hat (BAG v. 18.7.2013 – 6 AZR 420/12, Rn 39; BAG v. 4.10.1990 – 2 AZR 201/90, NZA 1991, 468, 469). Das ernstliche Verlangen eines Dritten, der unter Androhung von Nachteilen vom Arbeitgeber die Entlassung eines bestimmten Arbeitnehmers fordert, kann auch dann einen Grund zur Kündigung i.S.d. § 1 Abs. 2 S. 1 KSchG bilden, wenn es an einer objektiven Rechtfertigung der Drohung fehlt (BAG v. 15.12.2016 – 2 AZR 431/156, Rn 11). Auch in diesen Fällen ist Voraussetzung allerdings, dass die Kündigung das einzig praktisch in Betracht kommende Mittel ist, um die Schäden abzuwenden (BAG v. 15.12.2016 – 2 AZR 431/156, Rn 11; BAG v. 19.7.2016 – 2 AZR 637/15, Rn 38).
Rz. 671
Die Rechtsprechung des BAG zur betriebsbedingten Druckkündigung wird in der Literatur teilweise kritisiert. Zum Teil wird eingewendet, dass es sich um keinen Fall der betriebsbedingten Kündigung handele, weil arbeitsplatzbezogene Beschäftigungsmöglichkeiten nicht entfielen (so APS/Kiel, § 1 KSchG Rn 521 m.w.N.; Berkowsky, Die betriebsbedingte Kündigung, Rn 106). Die Druckkündigung sei nur der personenbedingten Kündigung zuzuordnen da der eigentliche Anlass für den ausgeübten Druck die Person des Arbeitnehmers sei (Krause, in: vHH/L, KSchG § 1 Rn 346; ErfK/Oetker, § 1 KSchG Rn 184). Zum Teil wird die echte Druckkündigung gänzlich abgelehnt. Nach dieser Ansicht liegt schon kein Kündigungsgrund vor. Habe sich der Arbeitnehmer nichts zuschulden kommen lassen, dürfe das Mittel der betriebsbedingten Kündigung nicht dazu führen, dass der Arbeitnehmer wegen einer ungerechtfertigen Drohung seinen Arbeitsplatz verliere. Recht brauche Unrecht nicht zu weichen (Stahlhacke/Preis, Rn 970; ablehnend auch HK/Weller/Dorndorf, KSchG § 1 Rn 997; zur Problematik diskriminierender Entlassungsverlangen vgl. Deinert, RdA 2007, 275 ff.).
Rz. 672
Die Kritik der Literatur ist nicht gerechtfertigt. Dringende betriebliche Erfordernisse für eine Kündigung können aus innerbetrieblichen oder außerbetrieblichen Gründen folgen (st. Rspr., BAG v. 18.7.2013 – 6 AZR 420/12, Rn 45; BAG v. 24.5.2012 – 2 AZR 124/11, Rn 21). In beiden Fällen liegt der Grund für die Kündigung in der Sphäre des Arbeitgebers, der entweder agiert, d.h. eine Organisationsentscheidung trifft, oder auf eine bestimmte Situation reagiert (BAG v. 18.7.2013 – 6 AZR 420/12, Rn 45). Letzteres ist namentlich der Fall, wenn der Arbeitgeber einen Auftrag verliert und es deshalb für ihn erforderlich wird, den Personalbestan...