Dr. iur. Berthold Hilderink, Prof. Dr. Martin Becker
Rz. 269
Beruht eine Arbeitsverhinderung des Arbeitnehmers auf der Verbüßung einer Freiheitsstrafe oder der Verhängung von Untersuchungshaft, kann grds. auch dies ein Grund für eine ordentliche personenbedingte Kündigung sein (BAG v. 23.5.2013 – 2 AZR 120/12, Rn 21; BAG v. 24.3.2011 – 2 AZR 790/09, NZA 2011, 1084; BAG v. 25.11.2010 – 2 AZR 984/08, Rn 12). Es hängt von der zeitlichen Dauer der Verhinderung – die bei Untersuchungshaft ggf. einer entsprechenden Prognose bedarf (vgl. dazu LAG Berlin v. 19.8.1985 – 9 Sa 56/85, n.v.) – und von Art und Ausmaß der betrieblichen Auswirkungen ab, ob die haftbedingte Nichterfüllung der Arbeitspflicht eine ordentliche Kündigung nach § 1 Abs. 2 KSchG rechtfertigt (BAG v. 23.5.2013 – 2 AZR 120/12, Rn 23; BAG v. 24.3.2011 – 2 AZR 790/09, NZA 2011, 1084). Dies ist in jedem Einzelfall gesondert zu prüfen (BAG v. 22.9.1994 – 2 AZR 719/93, NZA 1995, 119 = NJW 1995, 1172 = BB 1995, 1141 = DB 1995, 1716; BAG v. 20.11.1997, Beck RS 1997, 30772496). Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass der Arbeitgeber gem. §§ 616 Abs. 1, 275 Abs. 1, 326 Abs. 1 BGB von der Lohnzahlungspflicht befreit ist (BAG v. 23.5.2013 – 2 AZR 120/12, Rn 26; BAG v. 24.3.2011 – 2 AZR 790/09, NZA 2011, 1084; Schaub/Linck, ArbRHB, § 131 Rn 30). Liegt eine beachtliche Störung vor, bedarf es der abschließenden, alle Umstände des Einzelfalls einbeziehenden Abwägung, ob es dem Arbeitgeber unter Berücksichtigung der Interessen beider Vertragsteile unzumutbar war, das Arbeitsverhältnis bis zum Wegfall des Hinderungsgrundes fortzusetzen (BAG v. 24.3.2011 – 2 AZR 790/09, NZA 2011, 1084, 1085). Nicht beachtlich ist die Störung, wenn es dem Arbeitgeber zuzumuten ist, für die Zeit des haftbedingten Arbeitsausfalls Überbrückungsmaßnahmen zu ergreifen und dem Arbeitnehmer den Arbeitsplatz bis zur Rückkehr aus der Haft freizuhalten (BAG v. 23.5.2013 – 2 AZR 120/12, Rn 26; BAG v. 24.3.2011 – 2 AZR 790/09, Rn 15; BAG v. 20.11.1997 – 2 AZR 805/96, zu II 3 der Gründe). Jedenfalls dann, wenn der Arbeitnehmer im Kündigungszeitpunkt noch eine Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren zu verbüßen hat und ein Freigängerstatus oder seine vorzeitige Entlassung aus der Haft vor Ablauf von zwei Jahren nicht sicher zu erwarten steht, braucht der Arbeitgeber den Arbeitsplatz für ihn nicht frei zu halten (BAG v. 24.3.2011 – 2 AZR 790/09, NZA 2011, 1084). Grundlage für die Prognose muss nicht zwingend eine bereits erfolgte – rechtskräftige – strafgerichtliche Verurteilung sein (BAG v. 23. 05.2013 – 2 AZR 120/12, Rn 25). Die Erwartung, der Arbeitnehmer werde für längere Zeit an der Erbringung seiner Arbeitsleistung gehindert sein, kann auch im Fall der Untersuchungshaft berechtigt sein (BAG v. 23.5.2013 – 2 AZR 120/12, Rn 25). In solchen Fällen kommt es darauf an, ob die der vorläufigen Inhaftierung zugrunde liegenden Umstände bei objektiver Betrachtung mit hinreichender Sicherheit eine solche Prognose rechtfertigen (BAG v. 23.5.2013 – 2 AZR 120/12, Rn 25). Da sich ohne rechtskräftige Verurteilung nicht ausschließen lässt, dass sich die Annahme als unzutreffend herausstellt, muss der Arbeitgeber vor Ausspruch einer Kündigung alle zumutbaren Anstrengungen unternommen haben, den Sachverhalt aufzuklären, insbesondere dem Arbeitnehmer Gelegenheit gegeben haben, Stellung zu nehmen (BAG v. 23.5.2013 – 2 AZR 120/12, Rn 25).
Grds. ist auch eine außerordentliche haftbedingte Kündigung nicht ausgeschlossen (BAG v. 24.3.2011 – 2 AZR 790/09, NZA 2011, 1084).
Rz. 270
Sowohl bei der Frage, ob von einer erheblichen Störung des Austauschverhältnisses auszugehen ist, als auch bei der Interessenabwägung ist zu berücksichtigen, dass die Strafhaft (nicht unbedingt schon die Untersuchungshaft) kein unverschuldeter "Schicksalsschlag" ist, sondern der Arbeitnehmer diese in aller Regel zu vertreten hat (BAG v. 24.3.2011 – 2 AZR 790/09, NZA 2011, 1084, 1085). Infolgedessen können dem Arbeitgeber zur Überbrückung der Ausfallzeiten des Arbeitnehmers nicht die gleichen Anstrengungen wie bei krankheitsbedingten Fehlzeiten zugemutet werden (BAG v. 24.3.2011 – 2 AZR 790/09, NZA 2011, 1084, 1085).