Dr. iur. Berthold Hilderink, Prof. Dr. Martin Becker
Rz. 332
Gem. § 1 Abs. 2 S. 1 KSchG kann eine Kündigung u.a. sozial gerechtfertigt sein, wenn sie durch das Verhalten des Arbeitnehmers bedingt ist. Kennzeichnend für die verhaltensbedingte Kündigung ist ein vertragswidriges Verhalten des Arbeitnehmers. Verhalten ist jedes vom Arbeitnehmer willentlich gesteuerte Handeln (Schaub/Linck, ArbRHB, § 133 Rn 1). Im Unterschied zu einer personenbedingten Kündigung ist Voraussetzung bei der verhaltensbedingten Kündigung, dass dem Arbeitnehmer vorgeworfen werden kann, er hätte sich anders verhalten können. Ein verhaltensbedingter Kündigungsgrund liegt vor, wenn der Arbeitnehmer nicht will, ein personenbedingter Grund hingegen, wenn der Arbeitnehmer nicht kann (so prägnant v. Hoyningen-Huene/Linck, § 1 Rn 290). Entscheidend für die Abgrenzung der verhaltensbedingten Kündigung von der personenbedingten Kündigung ist mithin das Vorliegen einer Pflichtverletzung. Wenn der Arbeitnehmer vorwerfbar Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis verletzt hat, kann der Arbeitgeber ggf. aus verhaltensbedingten Gründen kündigen. Kann dem Arbeitnehmer keine Pflichtverletzung vorgeworfen werden, kommt nur eine personenbedingte Kündigung in Betracht (BAG v. 10.10.2002, AP Nr. 44 zu § 1 KSchG Verhaltensbedingte Kündigung).
Rz. 333
Eine Kündigung ist i.S.v. § 1 Abs. 2 S. 1 KSchG durch Gründe im Verhalten des Arbeitnehmers bedingt und damit nicht sozial ungerechtfertigt, wenn dieser seine vertraglichen Haupt- oder Nebenpflichten erheblich und in der Regel schuldhaft verletzt hat, eine dauerhaft störungsfreie Vertragserfüllung in Zukunft nicht mehr zu erwarten steht und dem Arbeitgeber eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers über die Kündigungsfrist hinaus in Abwägung der Interessen beider Vertragsteile nicht zumutbar ist (BAG v. 5.12.2019 – 2 AZR 240/19, Rn 75; BAG v. 15.12.2016 – 2 AZR 42/16, Rn 11; BAG v. 31.5.2007, EzA § 1 KSchG Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 71). Auch eine erhebliche Verletzung der den Arbeitnehmer gem. § 241 Abs. 2 BGB treffenden Pflicht zur Rücksichtnahme auf die Interessen des Arbeitgebers kann eine Kündigung rechtfertigen (BAG v. 5.12.2019 – 2 AZR 240/19, Rn 75; BAG v. 15.12.2016 – 2 AZR 42/16, Rn 11; BAG v. 19.11.2015 – 2 AZR 217/15, Rn 24; BAG v. 3.11.2011 – 2 AZR 748/10, Rn 20). Eine Kündigung scheidet dagegen aus, wenn schon mildere Mittel und Reaktionen von Seiten des Arbeitgebers – wie etwa eine Abmahnung – geeignet gewesen wären, beim Arbeitnehmer künftige Vertragstreue zu bewirken (BAG v. 5.12.2019 – 2 AZR 240/19, Rn 75; BAG v. 15.12.2016 – 2 AZR 42/16, Rn 11; BAG v. 19.11.2015 – 2 AZR 217/15, Rn 24; BAG v. 31.7.2014 – 2 AZR 434/13, Rn 19). Einer Abmahnung bedarf es nach Maßgabe des auch in § 314 Abs. 2 i.V.m. § 323 Abs. 2 BGB zum Ausdruck kommenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nur dann nicht, wenn bereits ex ante erkennbar ist, dass eine Verhaltensänderung auch nach Ausspruch einer Abmahnung nicht zu erwarten oder die Pflichtverletzung so schwerwiegend ist, dass selbst deren erstmalige Hinnahme durch den Arbeitgeber nach objektiven Maßstäben unzumutbar und offensichtlich (auch für den Arbeitnehmer erkennbar) ausgeschlossen ist (BAG v. 5.12.2019 – 2 AZR 240/19, Rn 75; BAG v. 15.12.2016 – 2 AZR 42/16, Rn 11; BAG v. 19.11.2015 – 2 AZR 217/15, Rn 24; BAG v. 20.11.2014 – 2 AZR 651/13, Rn 22).
Rz. 334
Als verhaltensbedingte Kündigungsgründe kommen grds. in Betracht:
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Leistungsstörungen (Schlechtleistung, unentschuldigtes Fernbleiben von der Arbeit oder sonstige Verstöße gegen die Arbeitspflicht), |
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Störung der betrieblichen Ordnung (Beleidigung von Arbeitskollegen, Verstöße gegen Sicherheitsvorschriften, Verstöße gegen Verhaltensmaßregeln, wie bspw. ein Rauchverbot), |
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Störungen im Vertrauensbereich (unerlaubte Handlungen, insb. Straftaten), |
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Verletzung von Nebenpflichten (verspätete Krankmeldung, fehlende Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung). |
Rz. 335
I.Ü. muss ggf. auch der Arbeitnehmer seinen Arbeitgeber abmahnen, bevor er zum Mittel der außerordentlichen Kündigung greift (BAG v. 19.6.1967, EzA § 124 GewO Nr. 1; BAG v. 28.10.1971, EzA § 626 BGB Nr. 9).