Dr. iur. Berthold Hilderink, Prof. Dr. Martin Becker
Rz. 1233
Eine methodisch überzeugende Legitimation des Wiedereinstellungsanspruches ist unverzichtbar, denn es handelt sich nicht um ein Auslegungsproblem des positiven Kündigungsschutzrechtes, sondern um die Schaffung eines neuen Rechtsinstitutes durch richterliche Rechtsfortbildung. Eine fundierte dogmatische Begründung ist auch aus der Sicht der Praxis erforderlich, denn davon hängen Inhalt und Grenzen des Wiedereinstellungsanspruches und seine tatbestandlichen Voraussetzungen ab. Denkbar ist allerdings, dass ein Wiedereinstellungsanspruch durch Tarifvertrag (zu § 19 Abs. 1 S. 2 TVÜ-Forst BAG v. 12.8.2015 – 7 AZR 592/13, NZA 2016, 173; abl. zu § 30 TVöD BAG v. 15.5.2012 – 7 AZR 754/10, NZA-RR 2013, 159; zur Nichtübernahme der Regelung des § 59 Abs. 5 BAT-VKA in § 33 TVöD BAG v. 20.6.2018 – 7 AZR 737/16, NZA 2019, 207), Betriebsvereinbarung (dazu BAG v. 24.4.2013 – 7 AZR 754/10, NZA-RR 2014, 532) oder Arbeitsvertrag (s. etwa BAG v. 13.6.2012 – 7 AZR 169/11, NZA-RR 2013, 616) vereinbart wird; die damit verbundenen Fragen müssen allerdings aufgrund ihrer gänzlich andersgelagerten Problematik im Folgenden ausgeblendet bleiben. Vorab klarzustellen ist aber, dass nach der Rspr. (BAG v. 20.10.2015 – 9 AZR 743/14, NZA 2016, 299; dazu Buschmann, AuR 2016, 248; Höpfner/Richter, RdA 2016, 149; Klumpp, EuZA 2016, 114) die nationale Zivilrechts- und Zivilverfahrensrechtsdogmatik der richterrechtlichen Anerkennung eines Wiedereinstellungsanspruchs trotz einer vom EGMR festgestellten Konventionsverletzung durch ein rechtskräftiges klageabweisendes Urteil im Kündigungsschutzverfahren entgegensteht, sofern aus dem nationalen deutschen Recht kein entsprechender Anspruch geschöpft werden kann.
1. Vertragsabschlussfreiheit und Kontrahierungszwang
Rz. 1234
Das Gesetz selbst regelt den Fall einer Wiedereinstellungsverpflichtung – von den Sonderfällen der §§ 6c Abs. 1 S. 3–5 SGB II (dazu BAG v. 24.9.2015 – 6 AZR 511/14, NZA-RR 2016, 41; BAG v. 28.1.2020 – 9 AZR 493/18, BAGE 169, 328), 174 Abs. 6 SGB IX einmal abgesehen – nicht, sondern nur die Wirksamkeit des Beendigungstatbestands (vgl. § 1 Abs. 2 S. 1 KSchG, § 626 BGB, § 102 BetrVG). Der Anspruch auf Wiederbegründung des Arbeitsverhältnisses ist nicht auf die Rücknahme der Kündigung gerichtet, sondern es geht um den Abschluss eines neuen Arbeitsvertrags. Der Arbeitgeber ist an sich grds. frei in seiner Entscheidung, ob er das Vertragsangebot eines Arbeitnehmers annimmt oder ablehnt. Dies beruht auf der Vertragsabschlussfreiheit als Teil der Privatautonomie. Wenn er rechtlich verpflichtet werden soll, mit dem gekündigten Arbeitnehmer einen neuen Arbeitsvertrag zu schließen, geht es um die rechtlich abzusichernde Begründung eines Kontrahierungszwangs. Dafür bedarf es einer methodisch tragfähigen juristischen Begründung.
2. Begründungsansätze des BAG
Rz. 1235
Seit seiner Entscheidung v. 27.2.1997 begründet das BAG (2 AZR 160/96, NZA 1997, 757) den Wiedereinstellungsanspruch mit der Überlegung, dass es sich dabei um ein notwendiges Korrektiv handle, weil die Rspr. allein aus Gründen der Rechtssicherheit, Verlässlichkeit und Klarheit bei der Prüfung des Kündigungsgrundes auf den Zeitpunkt des Kündigungsausspruches abstelle und schon eine Kündigung aufgrund einer Prognoseentscheidung zulasse, obwohl der Verlust des Arbeitsplatzes, vor dem der Arbeitnehmer durch § 1 KSchG geschützt werden solle, erst mit dem tatsächlichen Ausscheiden bei Ablauf der Kündigungsfrist eintrete. Der Arbeitgeber verhalte sich rechtsmissbräuchlich gem. § 242 BGB, wenn er bei Wegfall des Kündigungsgrundes den veränderten Umständen nicht Rechnung trage und zur Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht bereit sei (vgl. in diesem Sinne BAG v. 25.10.2007 – 8 AZR 989/06, NZA 2008. 357 f.; s.a. Oberhofer, RdA 2006, 92 f.; vom Stein, in: FS Willemsen, 2018, S. 575, 576). Das BAG versammelt kumulativ nahezu alle Elemente eines Begründungsansatzes, nämlich
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Einwand des Rechtsmissbrauchs, |
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Wegfall der Geschäftsgrundlage, |
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Korrektur der Prognoseentscheidung, |
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Schutzzweck des KSchG, |
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Art. 12 GG, |
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Vertrauensschutz des Arbeitnehmers und mangelnde Schutzwürdigkeit des Arbeitgebers. |
Rz. 1236
Diese Begründungsansätze erweisen sich bei genauer Betrachtung als nicht unproblematisch. Widersprüchliches Verhalten kann dem Arbeitgeber schon deshalb nicht vorgeworfen werden, weil die vorangegangene Kündigung wirksam und damit die Beendigung des Arbeitsverhältnisses eingetreten ist. Widersprüchlich könnte nur die Weigerung des Arbeitgebers sein, den rechtmäßig entlassenen Arbeitnehmer wieder einzustellen. Ein rechtsethisches Prinzip, jemand dürfe sich auf die Rechtmäßigkeit eines früheren Verhaltens nicht berufen, weil nachträglich veränderte Umstände eingetreten sind, ist in der deutschen Rechtsordnung nicht verankert. Die Argumentation des BAG, der für die Rechtfertigung einer Kündigung zugelassenen Prognose müsse als Korrektiv der Wiedereinstellungsanspruch gegenübergestellt werden, ist daher Bedenken ausgesetzt. Dann dürfte der Fortsetzungsanspruch nur für den Fall einer prognostizierten, aber noch nicht...